Ich bin jetzt bald 50 Jahre alt. Ein halbes Jahrhundert, in dem mich das Thema Rad fahren und die Begeisterung fürs Fahrrad begleitet hat. Für mich war es völlig normal, mich schon sehr früh selbstständig in der näheren Umgebung unseres Wohnhauses am Stadtrand von Oldenburg zu Fuß und mit dem Rad zu bewegen. Die Straße gehörte uns Kindern und manchmal saßen wir Stunde um Stunde auf dem Asphalt und malten diesen mit Straßenkreide voll. Wenn ein Auto kam, verließen wir unsere bunten Grundrisse, die unsere Spielhäuser darstellten, für einen kurzen Moment. Nur um uns gleich danach wieder dem Spiel und der Erweiterung der Kreidezeichnungen zuzuwenden. Niemand wäre auf die Idee gekommen, uns das Spielen auf der Straße zu verbieten und lange Zeit hatte ich dieses Ideal von spielenden Kindern im Kopf, wenn ich an meine Heimatstadt dachte. Ich erkannte zwar bald den Widerspruch zwischen den zahlreichen Vorteilen des Fahrrades für Umwelt, Gesundheit und Verkehr und dessen geringen allgemeinen Nutzung. Mit dem Heranwachsen wuchs auch mein Aktionsradius und ich sah an mancher Stelle, dass das Auto dem Fahrrad bei der Planung und Verkehrslenkung vorgezogen wurde. Ich zog in eine kleinere, ländlich geprägte Stadt und fast überall war dieses Ungleichgewicht noch stärker ausgeprägt als in Oldenburg. Dass es aufgrund des deutlich höheren Verkehrsaufkommens, größerer Autos und mangelnder Rücksicht für meine Enkelin, die in meinem Geburtshaus groß wird, fast undenkbar scheint den Raum um sie herum so zu erobern wie ich einst, wird mir erst jetzt bewusst. Die Situation für nachhaltigen, gesunden und Mensch gerechten Verkehr ist nicht nur nicht besser geworden: sie hat sich massiv verschlechtert. Ich habe versucht, meine eigene Begeisterung für das Rad als Verkehrsmittel konstruktiv in Veränderungen in meinem Wohnort anzubringen. Die schleichende Verschlechterung habe ich dennoch – wie viele andere – als mehr oder weniger gegeben hingenommen. Heute sind die Autos größer denn je und in Deutschland die zugelassenen Fahrzeuge auf einem Allzeithoch.
Buchprojekt Life Cycle
Ich schreibe ein Buch und zwar aus einer sehr persönlichen Perspektive. Mein Interesse am Thema Radverkehr, dem Fahrrad selbst, nachhaltiger Entwicklung und Verkehrspolitik erlaubt es mir, viele Entwicklungen und Zusammenhänge aus dieser Perspektive hinreichend gut zu beschreiben. So dass für interessierte Leser:innen ein Gesamtbild der von mir identifizierten Zusammenhänge entstehen kann. Das sie/er in einer zunehmend komplexen Welt mit der eigenen Erfahrungen abgleichen kann, um sich ein eigenes Bild zu machen. Ich wähle diesen Ansatz, weil die hohe Komplexität sowie zeitliche, räumliche, politische und soziale Zusammenhänge ohne diese Art von Orientierung nicht ohne weiteres zu fassen zu bekommen sind.
1972, in dem Jahr in dem ich geboren wurde, hat der Club of Rome den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht. Das ist jetzt knapp 50 Jahre her. Auf internationaler Ebene fand erstmals eine “Weltumweltkonferenz” in Stockholm über die Umwelt des Menschen statt. In Amsterdam erhoben sich Proteste gegen die Verkehrspolitik. Unter dem Motto “Stop de Kindermoord” (Stopp den Kindermord) fanden Demonstrationen statt, es wurden Unterschriften für eine Verkehrsberuhigung gesammelt und in einem Akt des zivilen Ungehorsams eigenmächtig Straßen für den Durchgangsverkehr gesperrt und Spielstraßen eingerichtet. Im Jahr darauf, führte der Jom-Kippur-Krieg zur Ölpreiskrise. 20 Jahre später, 1992 habe ich Abitur gemacht. Und auf der Weltklimakonferenz in Rio wurde mit dem der Agenda 21 ein weltweiter Handlungsrahmen verabschiedet, der den Weg in eine nachhaltige Entwicklung ebnen sollte. Ein Handlungsrahmen, der erstmalig mit der Lokalen Agenda 21 die kommunale Ebene, die Städte und Gemeinden in den Vordergrund rückt. Damals hat die junge kanadische Aktivistin Severn Cullis-Suzuki eindrucksvoll an die Welt appelliert, die Klimapolitik zu ändern. Fast 30 Jahre später ist es Greta Thunberg, die mit der von ihr begründeten Fridays-For-Future-Bewegung, die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens von 2016 einfordert. Mittlerweile ist es 2019 und im Jahr 2020 steht die Welt still: die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die COVID 19 Pandemie führen zum Stillstand.
Flugzeuge bleiben am Boden, die Menschen vielerorts in ihren eigenen Häusern. Sonst dicht befahrene Straßen und Metropolen sind frei von Autoverkehr. Statt dessen werden binnen kürzester Zeit Fahrstreifen zu geschützter Radinfrastruktur umfunktioniert. Paris wird innerhalb kürzester Zeit zur Fahrradstadt. Unfreiwillig steht jeder Einzelne im Mittelpunkt – inklusive 1,50 Meter Sicherheitsabstand. Ich frage mich: was werden die Lehren aus diesem Jahr sein. Die Bilder der Ölpreiskrise Anfang der 70iger haben sich fest in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Autofreie Sonntage in einem Zeitraum von rund sechs Wochen. Aber nicht überall wurden Konsequenzen daraus gezogen. Städte, Infrastrukturen und Menschen haben sich über die Jahre mehr und mehr an den zunehmenden Autoverkehr angepasst. Und zwar fast überall auf der Welt. Wenn von Verkehrswende die Rede ist, ist scheinbar oft genug eine „Antriebswende“ gemeint. Das menschliche Bedürfnis nach Mobilität, Reisen und auch Alltagsverkehr ist fast ausschließlich auf das Auto konzentriert. „Inseln der Glückseligkeit“ stellen die Niederlande und einzelne Städte wie zum Beispiel Kopenhagen dar. Und die Holländer selbst können sich fast nicht erklären, wie es dazu kam. Man muss es ihnen förmlich erklären. Radfahren ist in den Niederlanden im Grunde wohl nichts anderes als schnelles Laufen oder Gehen – eben mit dem Rad. Die Dokumentation „Why We Cycle“ lief in den Kinos der Niederlande rauf und runter – dabei müssten alle anderen – außerhalb Hollands – genau hinschauen, was da in den Niederlanden los ist (mittlerweile gibt es die Fortsetzung „Together we Cycle“ – unbedingt sehenswert).
Kinder spielen auf der Straße
Als wir damals auf der Straße gespielt und mit Kreide gemalt haben, haben wir dort auch das Rad fahren gelernt. Wir sind zu Fuß zur Schule gegangen und in Deutschland gab es weit weniger als 20 Millionen zugelassene Autos. Statt Klimakrise beherrschten wohl der kalte Krieg und Linksextremismus den öffentlichen Diskurs. Es war die Geburtsstunde des Umweltaktivismus, der Friedensmärsche und des zivilen Ungehorsams. In den 80iger Jahren fuhr ich mit dem Rad zur Schule. Auch das soweit alles normal und in vielen Fällen ist es bis heute so, das Kinder im späten Grundschulalter und Heranwachsende das Fahrrad als Hauptverkehrsmittel eigenständig nutzen. Die Räder die wir besaßen, waren entweder eine Art “neuwertiger Schrott” aus dem Kaufhaus oder die unzerstörbaren Erbstücke aus Stahl unserer Vorfahren. In Kalifornien zogen ein paar junge Menschen ebenfalls solche “Klunkerz” – schwere Beachcruiser-Fahrräder mit breiten Reifen – aus den großen Schrottbergen. Und fuhren mit atemberaubenden Geschwindigkeiten die Schotterpisten in den Bergen rund um San Francisco hinunter. Ungefähr zu der Zeit, als wir in der Turnhalle saßen und uns unser Sportlehrer die neuen Verhaltensregeln erklärte, schwappte von Westen die Mountainbike-Welle bis in die norddeutsche Tiefebene. Und von der anderen Seite kam aus dem Osten die Wolke der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.
Mit 16 arbeitete ich in einem Fahrradladen, schraubte an eben diesen neuen MTB und verkaufte Stadträder, die mein damaliger Chef quasi erfunden hatte. So finanzierte ich mir in den Osterferien mein erstes Rennrad, trainierte meinen mageren Körper, lernte schwimmen und fing an Triathlon zu machen. Damals eine ganz neue Sportart und ich kann mich gut daran erinnern, dass wir Videos der ersten Veranstaltungen schauten, die nur wenige Jahre zurück lagen. Und an denen die Leute teils mit Hollandrädern teilnahmen.
Noch im selben Jahr unternahm ich meine erste große Radtour. Sie führte mich und meinen fünf Jahre älteren Bruder einmal quer durch Deutschland. Von unserem Heimatort Oldenburg ins Ruhrgebiet und am Rhein entlang bis an die Grenze zur Schweiz an den Bodensee. Anfang der 90iger fuhren wir gemeinsam mit einem Freund aus dem Triathlonverein über die Niederlande nach England. Und meine erste Solotour führte mich über den kleinen Schlenker nach Texel in die damals tschechoslowakische Hauptstadt Prag. Die historische Dimension dieser Reise so kurz nach dem Fall des eisernen Vorhangs wurde mir erst viel später bewusst. Über lange Jahre konnte ich mich vor allen Dingen gut an meine persönliche Herausforderung, ganz allein auf dem Rad in einem fremden Land unterwegs gewesen zu sein, erinnern.
Wendezeiten
Zu dieser Zeit habe ich Abitur gemacht, später Zivildienst und dann eine Ausbildung zum Zimmerer. Auf der Welt herrschte Krieg. Erst im Irak und dann vor unserer Haustür in Jugoslawien. Es schien größere Probleme zu geben, als Fragen in Hinblick auf Klimawandel und Ressourcenschutz. Oder die Grenzen des Wachstums. Und auch wenn ich mich vor Ort in den Gründungsveranstaltungen zur Lokalen Agenda engagierte, lag mein Fokus auf der Familiengründung und dem Abschluss meiner beruflichen Ausbildung. Nach der der Lehre studierte ich Bauingenieurwesen. Wenn man Interesse zum Beispiel an nachhaltigem Bauen hatte, musste man aber Fortbildungen außerhalb des klassischen Studiums besuchen. Das tat ich und ich baute noch während des Studiums und damit vor der Jahrtausendwende ein Niedrigenergiehaus aus Holz, nahm eine Stelle als Ingenieur an und fuhr in den folgenden Jahren im Jahr jeweils rund 40.000 Kilometer mit dem Auto.
Ich weiß gar nicht, was zuerst geschah. Auf jeden Fall aber wurde deutlich, dass sich etwas verändern sollte. Ich bekam vom vielen Sitzen am Schreibtisch und im Auto chronische Rückenschmerzen und ein Bandscheibenvorfall wurde diagnostiziert. Ich stieg erneut aufs Rad. Zuerst für eine lange Solo-Tour durch Polen und dann auch auf dem Weg zur Arbeit. Ich kombiniert die gut 35 Kilometer einfache Strecke mit Rad und Bahn. Und weniger, weil mir Autos nicht gefallen würden sondern vielmehr weil mir Fahrräder auf dem örtlichen Frühlingsfest fehlten, organisiert ich mehr oder weniger in Eigenregie einen Fahrradtag. Ich hatte zu dieser Zeit bereits angefangen, redaktionell für ein kleines, kostenloses Fahrradmagazin zu schreiben. Und nutzte die Kontakte und mein Wissen, um eine ansprechende Veranstaltung rund ums Rad auf die Beine zu stellen, die von Beginn an auf sehr positive Resonanz stieß. Es war der Beginn für eine Initiative aus Lokaler Agenda und örtlichem ADFC und nach dem ersten Fahrradtag einigten wir uns darauf, mehr aus dem Thema zu machen und gründeten die Initiative “Vareler fahr´n Fahrrad”.
Dieser Text soll so oder so ähnlich in mein Buch Eingang finden. Liege ich mit dieser persönlichen Einordnung und dem Versuch auf diese Art und Weise einer interessierten Leserin / einem interessierten Leser den Einstieg in meine Gedankenwelt zu ermöglichen richtig? Freue mich auf Einschätzungen und Feedback.