Im Jahr 2021 findet eine Bürgerbeteiligung zu einem geplanten Radverkehrskonzept online statt. Weniger weil dies der aktuelle Stand der Technik wäre, sondern vielmehr weil die äußeren Rahmenbedingungen das erfordern. Dass die Bürger bei dieser Versammlung dauerhaft stumm geschaltet sind, könnte man als technische Rahmenbedingung werten. Wenn es nicht den Charakter der Veranstaltung insgesamt wider spiegeln würde. Und dass die Internetverbindung in der einzigen Versammlungshalle der Kleinstadt, in der eine Handvoll Zuschauer, Politiker, Verwaltungsmitarbeiter und die beauftragten Planer sitzen, so schlecht ist dass weder Video noch Ton zugelassen werden können, spricht ebenfalls Bände. Im Jahr 2021. Da reißt auch der Youtube-Stream nichts raus. Ich war sehr gespannt auf die Veranstaltung und als sie dann schneller als erwartet zu Ende geht, bleibe ich etwas irritiert zurück. Andere sind regelrecht sauer. Aber naja: merken kann man davon ohne Ton und Video wenig.
Beteiligung in Pandemiezeiten
In Berlin tagen Ministerpräsidenten und Bundesregierung zu dieser Stunde, um über den „Lockdown“ zu beraten. Und auch wir sitzen in einer Videokonferenz: es geht um die Neuauflage eines Radverkehrskonzeptes für die Stadt Varel. Denn genau genommen, gibt es ein solches Konzept schon. Erarbeitet mit breiter öffentlicher Beteiligung, verabschiedet von der Stadt zur Umsetzung, mit einem seitens der Politik beauftragten Radverkehrsbeauftragten, der das Ganze voran treiben soll. Und der trotz Budget und Vorarbeit irgendwann frustriert das Handtuch wirft. Die ganze Initiative gibt die Aufgabe nach knapp zehn Jahren Arbeit an die Stadt zurück.
Auf all das geht der Bürgermeister in seiner Einleitung nur knapp ein. Es gäbe ein Konzept, dass vor zehn, zwölf Jahren entwickelt wurde. Es sei deswegen nichts passiert weil schlicht kein Geld zu Umsetzung da gewesen sei. Ich lasse das hier und in der Veranstaltung unkommentiert. Nicht nur weil mein Mikro stumm geschaltet war.
Im Rahmen der Veranstaltung sollen Fragen im Chat des Videotools gestellt werden. Davon wird von Beginn an Gebrauch gemacht. Neben den TeilnehmerInnen im Call, schauen auch Menschen den Youtube-Livestream und mit den Anwesenden in der Weberei sind es rund 30 Teilnehmer. Wer das ist? Man weiß es nicht. Klarnamen gibt es vereinzelt, einige Menschen kenne ich persönlich und auf die Frage wer vor Ort ist, erfährt man die Namen der Politiker und der Verwaltungsmitarbeiter. „BürgerInnen“ scheint ein Sammelbegriff zu sein. Sehen kann man sie genauso wenig wie die Teilnehmer im Netz.
Radverkehrskonzept im Eiltempo
Es wird schnell deutlich, dass das Radverkehrskonzept innerhalb kürzester Zeit erarbeitet werden soll. Warum dieser Zeitraum so kurz ist, wollen die Teilnehmer im Chat wissen, wie die Stadt die Kommunikation unterstützt, auch welche Mittel dafür vorgesehen sind und auch Vorschläge und Anmerkungen, wie man das organisieren kann, werden geäußert. Die Planer machen vor dem Hintergrund der technischen Herausforderungen einen guten Job. Es sind verschiedene Beteiligungstools vorgesehen, die vor allen Dingen online funktionieren. Sie werden im Detail vorgestellt, die Fragen zu Alternativen aber nur recht oberflächlich beantwortet und auf die inhaltlichen Vorschläge dazu eigentlich gar nicht eingegangen. Insbesondere die Vertreter der Stadt halten sich auffällig zurück. Ich habe den Eindruck, man will das Feld den externen Planern überlassen. Sie sind die Operateure, die hinter einer klinisch sterilen Wand mit diesen „stummen und gesichtslosen Bürgern“ interagieren.
Es hat schon etwas slapstickhaftes, als der Wunsch im Chat diskutiert wird, dass die Teilnehmer sich zumindest untereinander vernetzen können sollten. Es gelingt, mein Mikro frei zu geben und ich ich weise darauf hin, dass ohne Klarnamen, Teilnehmerliste oder E-Mails keine Vernetzung möglich ist. Ja, das sind technische Hürden 2021 (sind sie das?), aber ganz ehrlich: da muss man sich als Verwaltung und Politik Gedanken drüber machen, wie man das organisiert. Man kann nicht behaupten, dass man breite Beteiligung will und dann nicht einmal die Basics bereit halten. Da muss man sich Gedanken machen über Datenschutz und Plattformen. Und das kann man auch nicht alles dem beauftragten Dienstleister überlassen. Das ist und bleibt Aufgabe der Stadt und da erwarte ich auch, dass sie die wahrnimmt.
Beteiligung wäre schön
Der Plan des Bürgermeisters geht auf, dass man mit dem Termin „so um halb acht, acht durch sein will.“ Auch weil die Mikros nicht wie man erwarten könnte zumindest für einzelne weitere Wortbeiträge geöffnet werden. Auch weil die Vertreter der Stadt sich zu den Fragen nicht weiter äußern. Man hat den Eindruck der Zeitplan ist wichtiger als die Diskussion und kritischen Anmerkungen. Das ist bitter und entspricht nicht den Erwartungen, die ich vor der Veranstaltung haben durfte. Eine Beteiligung, die keine Beteiligung ist, erreicht nur die die sich die Mühe machen sich damit zu beschäftigen. Und vielleicht nicht einmal die. Weil sie nach einem solchen Termin ebenso verdutzt und frustriert vor dem Rechner sitzen wie ich. Und sich fragen, was das bringen soll?
Ich bleibe dabei: es ist und war Aufgabe der Stadt das Thema Radverkehr und insbesondere die Beteiligung voran zu treiben. Vor über zehn Jahren hat die Initiative ihr viel Arbeit abgenommen. Und jetzt ist es an der Zeit, dass die Stadt Varel dafür Sorge trägt, dass wirklich etwas passiert. Das Menschen sich online und offline beteiligen können. Solche die das Thema unmittelbar bewegt und alle anderen auch. Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen die die Bedürfnisse von Alten und Kindern im Blick haben. Und bitte nicht ausschließlich männlich dominierte Arbeitskreise. Wir haben das mit AGENDA und ADFC angefangen. Ihr bekommt das auch hin. Aber nicht so.