„Ich bin ja auch Trapez-Künstlerin,“ sagt Maria, als wir die Hängematte zwischen den Heizkörpern auf fast zwei Metern Höhe fixieren. So richtig überzeugt bin ich von der Konstruktion nicht und habe ja auch nicht vor sie auszuprobieren. Als ich in den Laden hereinkam, hat Maria gerade das Schaufenster leer geräumt, die Sticker weg sortiert und den hölzernen Nachhaltigkeitspreis der örtlichen Stadtwerke, um die Hängematte aufzuhängen. Der Freund, der das gute Stück gefertigt hat, hat auch eine tolle Anleitung gemacht. Um die kümmern wir uns aber erst, nachdem alles hängt und ausprobiert und für gut befunden wurde. Das Prinzip Hilfe und Selbsthilfe probieren wir also gleich ganz praktisch aus. An Marias Anmerkungen erkenne ich schnell einen wohlwollenden und anleitenden Zug: „Hast Du schon entschlüsselt wie man das befestigt? Nein? Schau mal da ist so ein Verschluss.“ Ich schmunzle ein bisschen in mich hinein. Und bin froh, dass ich spontan hergekommen bin, um mir die Radgeberin – so heißt die Selbsthilfewerkstatt – anzuschauen. Nicht nur weil ich einen der ersten (genau genommen den vierten) Espresso in meinen Flatwhite aus der nagelneuen Maschine bekommen habe. Barista ist Maria nämlich auch, und Psychologie hat sie studiert, bevor sie jetzt zur Gründerin wurde. Ach so ja – also ich bin froh hier zu sein. Denn es ist Dienstag und nachdem die Hängematte hängt und alles vorbereitet ist, kommen nach und nach Menschen, die am wöchentlichen Öffnungstag ihre Räder reparieren wollen. Und Maria in ihrem Element zu erleben, ist toll.
Radgeberin in Witten
Der Reihe nach: ich bin in Witten, in Nordrhein-Westfalen in der Nähe von Bochum, etwas südlich von Dortmund. Und in Witten gibt es eine Art Rad-Café, also vielmehr eine Selbsthilfewerkstatt mit einer nagelneuen Siebträgermaschine in der regional gerösteter Kaffee verarbeitet wird. Radgerberin ist als Initiative aus dem so genannten Wiesenviertel e.V. hervor gegangen und ist jetzt Mitten in der Innenstadt der Einhunderttausend-Einwohner-Stadt zu finden. Innenstadt ist der Bereich, wo ich mit offenem Mund durch eine Straße mit 70iger-Jahre-Bauten gegangen bin, an deren Ende noch ältere, historische Gebäude zu finden sind und sogar das ehemalige Arbeitsamt als solches bezeichnet ist: ehem. Arbeitsamt. Ich möchte nicht sagen, dass der Bereich der Einkaufsstraße hässlich ist. Aber eine andere Umschreibung fällt schwer. Als ich in Witten ankomme, laufe ich also diese Straße hoch und biege auf dem Rückweg zum Treffpunkt südlich ab. Und da sehe ich auf einmal Parklets und eine nette, einladendende Umgebung. Fast magisch zieht es mich in ein Ladengeschäft, wo mir Anna gerne spontan erklärt, was es mit diesem Quartier auf sich hat. Das Ladengeschäft liegt im vorgenannten Wiesenviertel und der gleichnamige Verein ist Träger dieses Geschäfts, bietet die Räume für Treffen und Initiativen an, unterstützt Veranstaltungen, Weihnachtsbeleuchtung und zum Beispiel auch die Gestaltung durch Parklets, für die man eine Förderung akquiriert hat. Dass ich ein Treffen mit Maria vereinbart habe, freut Anna sehr. Die Radgeberin hat hier ihren Ursprung genommen und die Räume genutzt. Bevor ich mich festquatsche muss ich aber rüber.
Trapez-Künstlerin aus Freiburg
Maria hatte mich vergangene Woche in einem LinkedIn-Post markiert, der wohl für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Wahrscheinlich, überlegen wir beide während meines Besuchs, liegt es am Thema: Fahrrad und Selbsthilfe. Vielleicht auch in der Verbindung mit dem Rad-Café als Idee und der Initiative, die es den Menschen erleichtert sich selbst einzubringen? Und Menschen kommen an diesem Nachmittag viele. Eine junge Frau hat ihr Laufrad mitgebracht und ersetzt das Felgenband mit erstaunlicher Geduld durch zwei Lagen Panzer-Tape, das sie entsprechend zuschneidet. Ein junger Mann stellt seinen Scheiben-Bremsen selbst ein, nachdem Maria ihm gesagt hat wie es geht, ein Mann mittleren Alters fragt um Rat bei einem Geräusch am neuen Reiserad, eine weitere Frau repariert ihr Rad selbstständig. Während Maria barfuß ein geschenktes himmelblaues Rennrad an einem der zahlreichen Montageständer auseinander baut, herrscht mittlerweile ein buntes Treiben und angeregte Gespräche im Laden. Dabei ist es gar nicht der Anspruch, das alles von vorne bis hinten angeleitet wird. Hilfe zur Selbsthilfe eben. Das Publikum ist sehr divers, berichtet Maria. „Das reicht von Menschen, die tatsächlich gar kein Geld für eine Reparatur haben, bis zu Leuten mit einen Viertausend-Euro-Rad, die alles selbst erledigen wollen.“
Maria hat auch nicht vor, die Radgeberin in Witten dauerhaft selbst zu betreiben. Mittlerweile zieht es sie sogar zurück in die alte Heimat Freiburg. Dort will sie sich mit einer Selbsthilfe-Radwerkstatt einem weiteren Projekt mit Holz- und Metallwerkstatt anschließen. Hier in Witten ist die Finanzierung durch ein Gründungsstipendium bis November gesichert. Das hatte sie erhalten, nachdem sie zunächst mit einer Startnext-Kampagne den Anfang finanzierte und weitere Unterstützung durch den Nachhaltigkeitspreis der Stadtwerke und private Sponsoren erhielt. Nach November ist eine andere Form der Förderung beantragt.
In den kommenden Wochen stehen neben den Selbsthilfetagen jeweils dienstags auch Touren in der Region an. Darüber hinaus Kinovorführungen und Workshops, zum Beispiel zum Thema zentrieren. Ich habe mir vorgenommen wieder zu kommen und wer weiß: vielleicht gibt es demnächst ja auch eine Lesung, hier in der Radgeberin.
Radgeberin in Witten
Wiesenviertel-Verein