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Blogbeiträge

Mit Mark und Greta in Ostfriesland

In den letzten vier Jahren, habe ich gelernt qualitativ zu arbeiten, ja sogar ein gutes Stück weit zu forschen und so Human Centered Design praktisch anzuwenden. Mit Hilfe von semi-strukturierten Interviews und Befragungen haben wir Menschen, ihre Bedürfnisse und Motivationen entschlüsselt und die Erkenntnisse in der Anwendungsentwicklung und der Kommunikation berücksichtigt. Auf diese Art und Weise, haben wir in der Laufzeit des Projekts enera mit rund 60 Menschen längere – ein bis zwei stündige – solcher Interviews zwischen 2017 und 2020 geführt. Und mit fast 1.000 Menschen so intensiv Kontakt gehabt, das Rückschlüsse auf Werte, Antrieb und auch Ängste und Erwartungen möglich sind.

In den letzten Wochen ist mit bewusst geworden, wie stark dabei äußere Rahmenbedingungen Einfluss auf die Menschen und damit auf die Ergebnisse genommen haben. Dies beginnt 2017 mit dem Amtsantritt von Donald Trump, weit weg in den USA und dem Cambridge Analytica Skandal sowie dem Rückschluss auf die Brexit-Abstimmung 2017. Später ist es die Fridays For Future Bewegung, die 2019 Menschen und Meinungen bewegt und nicht zuletzt die Corona-Pandemie im Jahre 2020, die das Leben fast aller Menschen auf den Kopf stellt. Dies alles fällt in einen vierjährigen Zeitraum, in dem wir wie gesagt mit vielen Menschen gesprochen haben. Jetzt werden die ersten Corona-Impfungen durchgeführt, der Brexit ist letztendlich vollzogen und Trump abgewählt. Und nicht nur, weil die Welt nach wie vor in einer Art „Lockdown“ ist, Trump-Anhänger das Capitol gestürmt haben und das Klima alles andere als gerettet ist, bestehen die Einflüsse dieser Ereignisse auf die Werte und Erwartungshaltung der Menschen fort.

Titelbild: Alexander Fanslau

Vier Jahre Trump

Am Anfang einer Präsidentschaft eines etwas skurril aber scheinbar wenig ernst zu nehmenden Mannes, scheint der Einfluss auf die Menschen mit denen wir sprechen eher gering zu sein. Es dominiert ein ungläubiges Kopfschütteln und der Wunsch, dass dies eine komische Episode bleibt. Auch im Zusammenhang mit weiteren Entwicklungen wie der Brexit-Abstimmung ein Jahr zuvor und den anstehenden Verhandlungen zum Austritt des Vereinigten Königreichs, bleibt es lange Zeit bei der Einschätzung, dass das weit weg ist und uns hoffentlich wenig betrifft.
Dies ändert sich mit dem Facebook-Skandal und der Weitergabe von Nutzerdaten an Cambridge Analytica. Mit einem Mal scheinen diese globalen Entwicklungen in einem ungünstigen Zusammenhang zu stehen. Während unserer Befragungen 2017 und einer Tour durch die Region, die wir mit zwei Transporträdern unternehmen um auf das Projekt aufmerksam zu machen, spielt dies noch eine geringe Rolle. Aber es hat Einfluss auf die Fragen bzw. Antworten, die sich rund um Daten und Datensicherheit drehen. Und die geäußerte Bereitschaft persönliche Daten für an sich sinnvolle Dienste bereit zu stellen. Seine volle Wirkung entfaltet der Cambridge Analytica Komplex im Jahresverlauf und 2018 mag schon kaum mehr jemand mit uns auf Facebook gemeinsam in Erscheinung treten. Und die Frage in Hinblick auf zukünftige Entwicklungen – also der nach der persönlichen Zukunft und übergreifenden Entwicklung – werden oft mit dem Hinweis beantwortet, dass „bei uns ja zum Glück noch alles in Ordnung“ sei. Aber unsichere politische Verhältnisse sind schon 2019 nicht mehr abstrakt und weit weg. Mehr als einmal fallen Begriffe wie totalitär und radikal. Wie viele Menschen, mit denen wir in der Region gesprochen haben, werden den Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 mit den Bildern vom Reichstag im Vorjahr verglichen und ihren inneren Kompass an diese politische Lage angepasst haben?

Das Capitol in Washington steht als Sinnbild für stabile westliche Demokratien. Die Präsidentschaft von Trump und nicht erst die Ereignisse vom 6. Januar 2021 erschüttern den Glauben vieler Menschen in die Stabilität und Verlässlichkeit politischer Systeme.

Fridays For Future

Wir arbeiten an einem Energiewende-Projekt. Fragen zum Thema Energie, Klima und zum Beispiel den Auswirkungen der globalen Erwärmung, dem Atom- und später Kohleausstieg, gehören zu unserem Fragenset. Schon fast unnötig zu erwähnen, dass die von Greta Thunberg ins Leben gerufenen Schulstreiks massiven Einfluss auf die Antworten unserer Interviewpartner haben. Ebenso werden die Diskussionen in größeren Gruppen von den teils kontroversen öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Fridays For Future Bewegung, der Person Greta Thunberg und parallelen politischen Entscheidungen beeinflusst. Dem Auslaufen der EEG-Förderung für alte Anlagen, Fragen der Energiespeicherung, die Nutzung von Wasserstoff. Dies und vor allen Dingen der Kohleausstieg und dessen Geschwindigkeit sind die Themen auf der Sachebene. Auf der Gefühlsebene ist die konkrete unmittelbare Bedrohung durch den Klimawandel Dank einer einzigen Person mit Wucht im kollektiven Bewusstsein angekommen. Bereits nach wenigen Monaten ist das Thema und dessen zentrale Bedeutung für jeden einzelnen von uns nicht mehr weg zu denken. Unsere Fragen zu diesen Themenbereichen, gewinnen durch die Antworten im Kontext der Befragungen deutlich an Gewicht.

Corona: die Welt steht still

Viele unserer Fragen beziehen sich neben den Themen Energie und Klima auch auf die Veränderungsbereitschaft der Menschen und die Auswirkungen der Digitalisierung. Fast jedem mit dem wir sprechen, ist die Notwendigkeit und persönliche Bereitschaft, Daten zu teilen und bereit zu stellen, bewusst. Und dann macht sogar der Begriff der „Datenspende“ im Kontext einer Corona-App die Runde. Die Pandemie stellt das Leben vieler Menschen auf den Kopf. Zunächst merken es viele vielleicht noch nicht, aber durch den massiven Einfluss der Maßnahmen zur Eindämmung der weltweiten Pandemie, verändert sich auch die Vorstellung davon, welche Veränderungen möglich sind. Und während der Verkehr auf den zu Ostern leeren Autobahnen und Städten wieder zu fließen beginnt, haben sich die Einkaufsgewohnheiten, die Art zu reisen und vor allen Dingen das Freizeitverhalten massiv verändert. Unsere Befragungen zielen in dieser Zeit auf die Nutzung digitaler Tools und die Veränderungen in der Arbeitswelt ab. Und das was kurz zuvor noch undenkbar oder zumindest exotisch und ein bisschen elitär daher kam – Homeoffice, Remote-Arbeit und vollständig digitales Arbeiten – ist jetzt für sehr viele Alltag. Später wird deutlich, dass auch in Sachen Energie und Klima die massiven Veränderungen zu ganz neuen Blickwinkeln geführt haben. Bewussterer Konsum, Ernährung, Mobilität – all diese Bereiche lässt der Virus in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Fridays For Future Demonstration in Oldenburg 2019 – das Thema Klimaschutz und -folgen ist innerhalb weniger Monate unverrückbar ins Gedächtnis gerückt.

Qualitative Befragung im Wandel der Zeit

Ich habe diesen Beitrag quasi „im Schlaf“ geschrieben. Die Ereignisse der vergangenen Tage und Monate beschäftigen mich selbst sehr. Ich habe dies in meinem Jahresausblick 2021 bereits beschrieben und mit den Ereignissen in Washington, ist mir dieser ganze Zusammenhang noch einmal überdeutlich geworden. Ich bin froh, dass ich gelernt habe mittels strukturierter qualitativer Befragungen und einem mehr oder weniger stabilen Fragenset, im Verlaufe der Jahre untereinander vergleichbare Ergebnisse zu erzielen. Diese Fragen greifen nicht nur grundsätzliche Themen wie Energie, Mobilität und soziale Vernetzung auf, sondern adressieren ganz bewusst auch Werte, Erwartungen und Erfahrungen. Und auch wenn die beschriebenen äußeren Zusammenhänge räumlich und teils bereits zeitlich weit weg erscheinen, so sind die Auswirkungen auf die Antworten nahezu gleichlautender Fragen heute nachvollziehbar anders als vor zwölf, 24 oder 36 Monaten.