Reisen in der Zeit sind möglich: wer offenen Auges durch die Regionen Europas fährt wird es erleben. Meine persönliche „Zeitmaschine“ ist das Fahrrad – insbesondere weil die reduzierte Geschwindigkeit und die Unmittelbarkeit ein ganz anderes Erleben zulassen. Gerade das Baltikum und Polen – vor allen Dingen der Nordosten und die Küste reizen mich immer wieder aufs Neue. Und weil es nicht so einfach ist, dort mit dem Rad hinzugelangen habe ich auch andere Vehikel ausprobiert. Zuletzt die Kombination Ostseefähre mit dem eigenen VW-Bus – natürlich waren die Räder auch dieses Mal dabei. Ein Reisebericht mit Blick in den Rückspiegel: für mich ist es nach 1991, 2003 und 2007 das vierte Mal, dass ich auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte im aüßersten Nordosten Polens unterwegs bin.
Der Osten: nicht allzu leicht zu erreichen
Wir stehen an Deck der Ostseefähre, die von Kiel nach Klaipeda fährt und gerade die Förde verlässt. Im Bauch des Schiffes wartet „Kalle“ unser VW-Bus auf seinen Einsatz: es ist die erste große Reise für den „Ruheständler„. Er wird uns von der Kursichen Nehrung aus entlang der russischen Exklave Kaliningrad nach Osten bis in den äußersten Zipfel Polens im Dreiländereck Polen-Litauen-Weißrussland und dann entlang der polnischen und deutschen Ostseeküste zurück nach Hause an die Nordseeküste bringen. Eine tiefe Sehnsucht führt mich immer wieder in diese nordöstlichste Region Europas und ich bin erleichtert, dass wir ohne Anstrengung am nächsten Tag unser Ziel erreicht haben werden. Eine Fahrt mit dem Auto musste ich vor ein paar Jahren abbrechen. Die 22-stündige Tour mit dem Transitbus nach Suwalki war Jahre zuvor die reinste Tortour, im Nachtzug zurück von Elblag (Lyk) wollten sie uns einst zunächst nicht mitnehmen. Selbst der Flug von Bremen ins lettische Riga war eher abenteuerlich. Denn immer dabei waren die Fahrräder – so wie auch jetzt. Und die mussten am Flughafen in Riga zunächst wieder zusammen geschraubt werden.
Ostsee-Fährfahrt unschlagbar
Was mir vor allen Dingen gefällt: wir sind völlig unabhängig und können nach der Ankunft in Litauen frei entscheiden, wann und wie es weiter geht. Kein Bus, Flieger oder Zug der zu einer bestimmten Zeit an einem entfernten Ort erreicht werden muss, um zurück nach Hause zu kommen. Wir haben alles dabei und können zur Not am Straßenrand übernachten und ansonsten ist alles einigermaßen sicher und solide verstaut. Nach den Erfahrungen der letzten Reisen in diesen entlegenen Zipfel, echte und unschlagbare Vorteile der Kombination Fähre und Transporter. Kalle rollt aus dem Schiff auf den Anleger und wir fahren zunächst durch Klaipeda und setzen dann über auf die Kurische Nehrung. Hier beginnt meine persönliche Zeitreise: vor fast zehn Jahren sind wir mit den Reiserädern von Riga aus kommend auf der Halbinsel bis nach Nida gefahren. Der Campingplatz in dem kleinen Ort nahe der russischen Grenze ist auch diesmal unser Ziel.
Gut ausgebaute Straßen in Litauen
Anders als damals setzen wir nicht von Nida aus aufs Festland über. Das war 2007 auch recht abenteuerlich und alleine mit den Rädern und nur mit einem kurzfristig gecharterten Boot möglich. Auf der anderen Seite erwartete uns eine aufbeweichte Piste, später die gefürchteten Schotterstrecken mit faustgroßen Steinen. Mit dem Wagen müssen wir die Nehrung nach Klaipeda zurück fahren und verbringen dann einige Zeit auf der gut ausgebauten, vierspurigen Transitstrecke Richtung Kaunas. Die Stadt überrascht uns mit all ihrem Flair und wir bleiben länger als geplant, bevor wir Richtung Süden zur Grenze fahren. Auch diese Straßen sind gut ausgebaut und man bekommt ein Gefühl dafür, in welchem Maße der Transitverkehr durch Polen in Richtung Baltikum zugenommen haben muss, in den letzten 10 bis 15 Jahren. Kurz hinter der Grenze biegen wir von der Hauptstraße ab und fahren Richtung Westen. Diese Gegend habe ich seit meiner späten Jugend mehrfach besucht und kann die Veränderungen beurteilen.
Im Nordosten Polens auf den Spuren der eigenen Familie
Damals, kurz nach der Wende 1991 hatte sich die Natur fast alles wieder geholt, was vor dem Krieg augenscheinlich infrastrukturell erschlossen gewesen war. Das Elternhaus meines Vaters hat die Zeit nach dem Krieg wie durch ein Wunder als einziges einer kleinen Siedlung bis Anfang des neuen Jahrtausends überstanden. Auch heute sind z. B. Bahndämme und Brückenbauten ungenutzt (wenn man von Rad- und Fußwegen bzw. als touristisches Besichtigungsobjekt absieht). Aber im Gegensatz zu damals und auch zur Zeit rund um den EU-Beitritt Polens hat sich eine Menge getan. Vor allen Dingen Straßen und Häuser wurden saniert oder komplett neu gebaut. Wir fahren weiter entlang der Grenze Richtung Küste. Während eindrucksvolle Fragmente und Bauten der Ordensritterzeit und auch solche der Kriegsjahre erhalten blieben, wurden andere überbaut: die „Reichsautobahn“ bei Braniewo, die noch 2003 ein bemerkenswertes, wenn auch überwuchertes Relikt des so genannten Dritten Reiches war, ist heute als solches nicht mehr zu erkennen. Auf der alten Trasse befindet sich heute ein Schnellstraßen-Neubau, inklusive neuer Brückenbauten und Anschlüsse. Der mehr als sechszig Jahre andauernde Dornröschenschlaf war wohl irgendwann vorüber.
Fast 2.000 Kilometer unterwegs
Unsere Reise führt uns weiter zur Frischen Nehrung, nach Gdansk (Danzig) und auf die Halbinsel Hel. Nur kurze Strecken sind ausgebaut, z. B. zwischen Elblag (Elbing) und der Dreistadt Gdansk, Gdynia und Zoppot. Die Kilometer auf der Landstraße scheinen endlos und wir sehnen uns danach, nicht mehr Stunde um Stunde im Auto zu verbringen, um weiter gen Westen zu kommen. Nicht umsonst hatte ich bereits eine Reise abgebrochen, weil an entspanntes Fahren in Küstennähe und bis ins ehemalige Ostpreußen als alleiniger Fahrer nicht zu denken war. Jetzt wechseln wir uns mit dem Fahren ab. Dabei sehen und erleben wir viel – auch vom Wagen aus. So mancher Abstecher fällt viel leichter als mit dem vollbepackten Reiserad. Und Orte wie Zoppot oder Kolobrzeg erradeln wir uns trotzdem mit den mitgerachten Rädern. Als wir bei Szczecin (Stettin) die Deutsche Grenze erreichen, liegt eine erlebnisreiche Zeit auf mir bekannten Pfaden hinter uns. In zwei Etappen – mit Zwischenstopp auf Rügen- geht es zurück an die Nordsee. Zu Hause angekommen, sind wir fast 2.000 Kilometer gefahren.
Baltikum und Polen sehenswert
Ich habe fest gestellt: nicht umsonst zieht es mich immer wieder gen Osten – insbesondere nach Polen, Litauen und Lettland. Leider ist es gar nicht so einfach dort hin zu gelangen. Ein kurzer Überblick der bisherigen An- und Abreissoptionen: Variante 1: mit dem Auto. Funktioniert immer dann gut, wenn man Zeit und wechselnde Fahrer hat. Geht hin und zurück gleichermaßen.
Variante 2: mit dem Bus. Von Bremen aus nonstop bis nach Suwalki in knapp 23 Stunden. Harter Tobak. Zurück ging es mit der gleichen Linie von Stettin. Die Strecke dazwischen? Mit dem Reiserad: schöne Tour…
Variante 3: mit dem Flugzeug nach Riga und dann mit dem Rad nach Elk (Lyk). Von dort fährt ein Nachtzug über Stettin nach Deutschland. Sagen wir: abwechslungsreich.
Variante 4: wie im Bericht beschrieben mit der Fähre von Kiel nach Klaipeda. Das Auto kommt mit. Oder das Fahrrad. Oder beides. Ich denke, das kann jetzt jeder für sich entscheiden und mit den genannten Alternativen kombinieren.
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