Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe an einem Blogartikel. So weit so gewöhnlich – oder auch nicht. Denn normalerweise sitze ich dabei gerne auf dem Sofa. Selbst im Büro, bin ich zum konzentrierten Arbeiten häufig nicht mehr am Schreibtisch, sondern irgendwo im Open Space, am liebsten auf einem Sonnenstuhl oder Sitzsack. Oder ich arbeite im Stehen. Doch noch lieber, bewege ich mich. So wie jetzt gerade und dass das in Verbindung mit einer schreibenden Tätigkeit geht, ist für mich neu und dann tatsächlich eher ungewöhnlich. Für viele wohl sogar unvorstellbar – für andere das einzig wahre. So viel habe ich aus den ersten Rückmeldungen zu einem Bildpost schon erfahren. Ich bin nicht alleine und so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheint, ist das ganze auch wohl nicht.
Arbeit, Bewegung und Alltag
Gerade zu Beginn des jeweiligen Jahres werden die Fitnessstudios der westlichen Welt – Dank der zahlreichen guten Vorsätze – nahezu überschwemmt. Zu einem treppenwitzartigen Phänomen wird das Ganze, wenn spätestens ab Februar der harte Kern der Studiobesucher wieder unter sich ist. Nicht deswegen, sondern viel grundlegender beschäftigt sich ein Artikel des „The Guardian“ mit der Frage, ob und wenn ja warum, Sport im Sinne von Training den augenscheinlichen Bewegungsmangel, der heute unbestreitbar vorhanden ist, entgegen wirken kann. Neige ich zu Schachtelsätzen, wenn ich mich beim Schreiben bewege? Nur so nebenbei…
Ich will hier nicht den gesamten Artikel des Guardian aufbereiten und rezitieren. Er stellt auf jeden Fall die Themen Sport, Bewegungslosigkeit, Arbeitswelt und zivilisatorische Entwicklung in einem interessanten Gesamtzusammenhang und kommt zu dem Schluss:
„You don’t have to join a gym this year. The numbers tell us that exercise is not the solution to the problems associated with physical inactivity, for the simple reason that these two things are not opposites. The antidote is activity: to find and recover some of the movement that modern life has been taking from us for centuries.“
Heißt: Sport im Sinne von „nicht alltäglicher“ Betätigung, löst die Probleme die durch mangelnde Bewegung entstehen nicht – einfach weil es sich nicht um Gegenteile handelt. Wer am Abend ins Fitnessstudio oder Laufen geht, gleicht eben nicht das aus, was ihm oder ihr am Tag gefehlt hat. Es macht nichts besser. Und genau das ist das Gefühl, dass ich schon seit Jahren habe.
Veränderungen im Kleinen und im Großen
Ich hatte es schon angedeutet: ich habe inzwischen dankenswerter Weise viele verschiedene Möglichkeiten zu arbeiten. Am Schreibtisch sitzend oder stehend, zu Hause auf dem Sofa lümmelnd und so sogar im Office im Sitzsack. Für diese Flexibilität bin ich unendlich dankbar. Fühlte ich mich in den rund 15 Jahren davor im Büro eingesperrt und am Schreibtisch fixiert wie ein Karnickel im Stall. Aber echte Bewegung im Arbeitsalltag? Wie soll das funktionieren? Wenn ich mich bewege oder gehe, kann ich nicht schreiben oder eine Workshop machen. Klar, auch in der Arbeit in der Gruppe brechen alte Strukturen auf. Räume werden durchlässiger und Arbeitsmethoden flexibler – da wird geklebt und gebaut und – oh Wunder – strategisch, inhaltlich gearbeitet. Aber von Bewegung im Sinne des eigentlich vorhandenen anthropologischen Bedarfes, ist das weit entfernt. Der Weg zur Arbeit lässt sich idealerweise aktiv gestalten, die Arbeitsunterbrechungen und selbst Ideenfindung und gemeinsames Lernen. Spaziergänge, Yoga oder Surfen werden im Kontext von Design Thinking intergriert und wir haben zuletzt sogar gemeinsam die Möglichkeit des Einsatzes von Fahrrädern pilotiert. Neben Bewegung, spielte dabei auch die soziale Interaktion und das Erleben von Raum und Zeit eine Rolle.
Konzertiert und dabei in Bewegung
Das ist in diesem Moment anders. Während ich hier schreibe muss ich aufpassen, dass ich nicht zu sehr ins Schwitzen komme. Bei meinem ersten Versuch, habe ich den vorhandenen Hometrainer an den Schreibtisch gerollt, etwas modifiziert, damit der vordere Teil unter die Tischplatte des höhenverstellbaren Tisches passt und bin drauf losgestrampelt, wie ich es immer gewohnt war. Innerhalb von 15 Minuten musste ich erneut duschen an diesem Morgen am Heimarbeitsplatz. Hier ist kein Fahrtwind und kein aktives Erleben der Bewegung durch Zeit und Raum. Und soziale Interaktion ist auch nicht. Es sei denn ich schreibe oder beantworte Nachrichten. Und es ist nicht nur etwas ganz anderes als Training mit Ablenkung, es ist auch eine ganz andere und neue Art zu arbeiten. Zwischenzeitlich vergesse ich sogar was meine Beine tun, denn sie tun es automatisch. Und ich frage mich auch nicht nach Zeit, Strecke und Leistung. Weil das gerade völlig irrelevant ist. Es geht um die gleichmäßige Bewegung, von der ich weiß, dass diese über einen längeren Zeitraum – wir sprechen von mehr als 30 Minuten – auch gehirnphysiologisch positive Auswirkungen hat. Eine Freundin schrieb mir, dass sie so schon seit der Studienzeit arbeitet und vor allen Dingen das hohe Maß an Konzentrationsfähigkeit und den „Flow“ dabei mag. Ich bin also nicht alleine.
Das unvorstellbare tun
Andere wunderten sich, ob diese Art der Kombination aus Bewegung und Schreibtischarbeit überhaupt möglich ist. Ehrlich gesagt: ich wusste es auch nicht, bis ich es ausprobiert habe. Ich hatte schon Berichte gelesen von Schulen, die erfolgreich so genannte „Ergometer-Klassen“ erprobt haben. Aber in Wirklichkeit blieb mir das seltsam fremd. Und ich habe mich lange nicht getraut, so etwas „verrücktes“ auszuprobieren. Fühle ich mich doch sonst schon oft, wie ein bunter Vogel mit meinem Fahrradtick – und diesem „Problem“ mit festen Arbeitsstrukturen und räumlichen Konzepten warm zu werden. Jetzt ahne ich: das Problem ist viel weiter verbreitet, als ich gedacht habe.
Rückblick: Dresden im Herbst 2018. Ich sitze mit rund 100 anderen Teilnehmern des Mensch & Computer Kongress in einem großen Hörsaal. Bewegungsmöglichkeit in den engen Stuhlreihen gleich Null. In den umliegenden Räumen ein ähnliches Bild. Konzentriertes Zuhören ist angesagt. Es geht schließlich auch um Bewegung im Arbeitsalltag. Human Centered Design – mensch- bzw. nutzerzentrierte Gestaltung. Mein Hirn weiß nicht so richtig ob es lachen oder weinen soll. Mein Körper schüttelt innerlich den Kopf. Beide fragen: was machen wir hier?
Na klar, wir können uns nicht ständig und überall bewegen. Können wir nicht? Wir meinen wir können es nicht und sind durch Lebensbedingungen, Arbeitsumgebung und vor allen Dingen durch uns selbst und die Gesellschaft – sagen wir: diszipliniert. Aber MUSS das so sein? Ich denke nicht. Ich denke wir sollten Mittel und Wege finden, unseren natürlichen Bedürfnissen besser nach zu kommen. Und Mensch zentrierte Entwicklung fängt vor allen Dingen bei mir selbst an.