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Blogbeiträge / Radverkehr

Fahrradstadt Groningen

Als mir in den Sinn kam, ein Buch zu schreiben)*, dachte ich aus irgendeinem Grund es würde relativ einfach werden die Städte Oldenburg und Groningen miteinander zu vergleichen. So augenfällig sind die Parallelen in Größe und Lage, sowie Bevölkerungsstruktur diesseits und jenseits der Grenze der Niederlande. Und ebenso auffällig unterschiedlich sind die beiden regionalen Zentren in Bezug auf die Entwicklung des Radverkehrs. Doch so einfach ist es nicht. Die Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung seit den 70iger Jahren reichen unter Umständen bis weit in die Historie davor zurück. Und begründen sich auch in soziologischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, die ich nur unzureichend beantworten kann. Ich hatte die Idee qualitativ zu forschen und Menschen in den jeweiligen Städte zu befragen, so wie ich es in den letzten Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen gelernt hatte. Und habe dafür sogar durch einen glücklichen Umstand eine sehr qualifizierte und motivierte Partnerin in Groningen gefunden, mit der ich in die Planung und Auswahl geeigneter Interviewpartner eingestiegen bin. Und dann hat uns vor allen Dingen auch Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Trotz alledem, habe ich bei meinen Besuchen in Groningen einiges gesehen und erlebt, was ich hier gerne teilen möchte.

Groningen und Oldenburg

Wenn man im Nordwesten Deutschlands aufgewachsen ist, dann gehört die niederländische Stadt Groningen zu den beliebten Ausflugszielen. Gleiches gilt übrigens auch für die Einwohner Groningens, die sich gerne auf den Weg nach Oldenburg machen. Die beiden Studentenstädte sind vergleichbar groß, liegen jeweils am Rand des jeweiligen Staates und bilden dort gleichsam eine Art regionales Zentrum. Selbst die Bevölkerungsstruktur ist einigermaßen vergleichbar und doch sind die Städte erstaunlich unterschiedlich, wenn man sich die verkehrliche Entwicklung – und vor allen Dingen den Radverkehr – anschaut.
Oldenburg hat zwar zum Ende der 60iger Jahre die erste zusammenhängende Fußgängerzone in Deutschland etabliert – zunächst als „Experiment“ bzw. Versuch und dann sogar entgegen erhebliche Widerstände – tritt seither in Sachen Experimentierfreudigkeit und insbesondere bei der Förderung des so genannten Umweltverbundes (Rad- und Fußverkehr und ÖPNV) mehr oder weniger auf der Stelle. Überdeutlich wird dies, wenn man sich den so genannten Verkehrsentwicklungsplan der Stadt anschaut und was daraus (nicht) geworden ist. Auch zwanzig Jahre später ist vieles in Oldenburg schlicht so, wie es schon weit vor der Jahrtausendwende war.


Groningen hat sich in der Zeit seit ca. Mitte der 70iger Jahre in Sachen Radverkehr hingegen dynamisch entwickelt und gilt heute als echte Fahrrad-Vorzeigestadt. Die Umsetzung der Idee, den historischen Stadtkern in vier „Tortenstücke“ aufzuteilen, die nur für den Rad- und Fußverkehr durchlässig sind, wirkt bis heute nach. Autos müssen nach diesem Traffic-Circulation-Plan von 1977 außen um den zentralen Bereich herum fahren – außen „umzu“ würde der Oldenburger sagen. Selbst um das jeweils nächstgelegene Tortenstück zu erreichen. Das historisch kompakte Groningen wird dadurch zu einer Art verkehrsberuhigten Stadt der kurzen Wege. Auch in der Zwischenzeit, seit Ende der 70iger Jahre, hat man einiges ausprobiert und optimiert und setzt zudem konsequent Maßnahmen für die Ziele der Zukunft um. So will die Stadt bis 2025 die City-Logistik CO2-neutral machen und schränkt schon jetzt schrittweise die Zufahrtsmöglichkeiten ein. Damit Händler und Gastronomen Anreize haben zum Beispiel auf emissonsfreie Lieferfahrzeuge wie Lastenfahrräder umzustellen. Groningen ist damit übrigens in guter Nachbarschaft: mindestens 24 Kommunen in den Niederlanden haben im Sommer angekündigt, eine Null-Emissionen-Strategie umzusetzen.

Groningen per Rad

Mit dieser kurzen Gegenüberstellung ist im Grunde alles gesagt und beschrieben: Oldenburg erscheint in diesem Lichte als typisch deutsche Stadt, während Groningen so ist, wie man dies in den Niederlanden erwartet. Die Frage nach dem „warum“ bleibt dabei auf der Strecke und ich wollte wissen: lässt sich dieses „warum“ im Hier und Jetzt auffinden. Ich habe mich daher auf den Weg gemacht, habe mit Menschen gesprochen und versucht Indizien zu finden und Hintergründe zu recherchieren. Dies vorweg: in den Niederlanden und auch in Groningen selbst, ist das Thema Radverkehr keineswegs ein Selbstläufer. Immer wieder hat es in der Vergangenheit Entwicklungen gegeben, die ein aktives Gegensteuern erforderten, damit nicht etwa das Auto auch in den Städten dominiert. Habe dazu im Beitrag über Utrecht einen interessanten Film verlinkt.

Wenn man heute in Groningen mit dem Rad unterwegs ist, kann man sich nicht vorstellen dass es jemals anders gewesen sein könnte. Hier wird nahezu und buchstäblich alles mit dem Rad erledigt. Und ich wiederhole mich, wenn ich versuche zu beschreiben wie groß die Bandbreite derer ist, die man auf dem Rad sieht. Weil ich mich zu der Zeit eines Besuchs intensiv um die Themen Emanzipation und Diversität im Kontext des Rad fahrens genähert habe, frage ich mich: liegen die Vorteile dieser Art der Fortbewegung insbesondere für Frauen – in Form von Unabhängigkeit auf vielen Ebenen – so unmittelbar auf der Hand, dass sie sich – einmal erfolgreich etabliert – selbst verstärken und verstetigen? Und sind nicht alle Menschen andernorts von der positiven Erfahrung abgeschnitten, schlicht weil sie dies im Alltag nicht erleben können? Ich würde die Menschen gerne fragen. Und darum plane ich zunächst eine Interviewreihe. Und zwar mit bis zu zehn Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und sozialer Herkunft in Groningen und in Oldenburg. Um auf Basis von menschzentrierten Methoden Rückschlüsse ziehen zu können.

Auto gerne auch hier dominant

Im Gespräch mit Akteuren vor Ort erfahre ich zudem, dass es auch in Groningen immer wieder Diskussionen und Entwicklungen gegeben hat. Das Auto hat hier vor Ort und in den Niederlanden insgesamt durchaus das Potenzial, den Radverkehr zu verdrängen. In den 90igern wurde eine nationaler Masterplan Fiets ins Leben gerufen, um dem entgegen zu wirken. In Groningen, lerne ich, möchte man ungern die Erfolgsstory des Traffic-Circulation-Plan zurückdrehen. Ihm haftet dennoch der Nimbus an, dass er von den „langhaarigen Roten“ (der damals linksdominierten Stadtführung) ins Leben gerufen wurde. Das ist natürlich keine belastbare, objektive Aussage. Aber als es darum ging, unter dem zentralen Großen Markt eine ausgedehnte Autoparkgarage zu bauen, regte sich Widerstand. Es folgte ein weiteres Mal ein eindrucksvoller und bemerkenswerter Akt bürgerlicher Beteiligung. Der im aktuellen Ergebnis unter anderem zu einer Aufwertung des Zentrums auch durch einen so genannten Third-Place führte. Einem Ort, der nicht ausschließlich dem Konsum oder öffentlichen Einrichtungen (wie zum Beispiel Bibliotheken) vorbehalten ist, sondern als „Dritter Ort“ die Funktionen miteinander verknüpft (Forum Groningen). Und auch sonst wird viel Wert auf funktionierende Stadtteilzentren gelegt – und zwar schon seit den 70igern. Auf diese Art und Weise, wurde der drohenden funktionalen Trennung in der Stadt effektiv entgegen gewirkt und damit mittelbar auch der Radverkehr gestärkt, bzw. der Zunahme des Autoverkehrs entgegen gewirkt.

(Fahrrad)Stadt auf Augenhöhe

Und dann habe ich wie gesagt Svea Cornelius gesucht, gefunden und getroffen. Eine glückliche Fügung. Die junge Deutsche lebt seit gut vier Jahren in den Niederlanden, hat im Bachelor Psychologie in Amsterdam studiert und ihren Master in Umweltpsychologie in Groningen gemacht. Ab Januar arbeitet sie übrigens für Velokonzept in Berlin, über die ich hier auch schon berichtet habe. Mit Ihrer Ausbildung und ihrem Interesse und Engagement hat Svea genau die Voraussetzungen, die es für eine qualitative Interviewreihe und deren Auswertung braucht. Sprachliche Barrieren und Fragen der sozialen und kulturellen Distanz könnten wir gemeinschaftlich überwinden. Wenn da nicht…Corona wäre. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Geschichte, die ich erzählen möchte, spielt sich direkt vor Sveas Haustür ab. Denn da wird eine Straße überplant und der Raum soll neu gestaltet werden. Und Svea gehört zu einer Gruppe von Koordinatoren – der Wijkcooperatie GoeieBuurt – die in der Nachbarschaft den Dialog und Informationsaustausch organisiert. Und so kommt es, dass wir an einem spätsommerlichen Abend zusammen auf der Straße stehen und über die aktuellen Pläne der Stadt diskutieren. Svea hat Tische raus gestellt und man hat gemeinsam Snacks und Getränke organisiert. Vertreter der städtischen Planungbehörden sind dabei, haben nach einem ersten Treffen jetzt zum zweiten die Planunterlagen aktualisiert. Und sind jetzt mehr dabei als mittendrin. Sie hören zu, die Nachbarn und Anwohner diskutieren. Und zwar nicht kontrovers, sondern konstruktiv. Es geht um mehr als nur die Frage Kreisverkehr oder Ampelkreuzung. In der Mitte zwischen den Straßen ist eine Grünfläche. Ganz früher war auch hier ein Kanal, der – man ahnt es vielleicht – zugeschüttet wurde. Bei der Umgestaltung, geht es nun auch um Aufenthaltsqualität, das Funktionieren von Geschäften und gastronomischen Betrieben. Viel mehr also, als nur Verkehr oder Sicherheit, obwohl die Achse auch eine wichtige Zubringerfunktion für die Innenstadt hat.
Und die Gespräche finden nicht nur auf den unterschiedlichen Sachebenen statt, sondern behalten trotz des offiziellen Anlasses ihren nachbarschaftlichen Charakter. Man trifft sich hier, weil es etwas zu besprechen gibt. Und man bespricht etwas, auf das man Einfluss nehmen kann. Heute, aber auch in Zukunft. Auf Augenhöhe und genau dafür ist dieser Austausch da.

Treffen auf Augenhöhe: so wie hier auf der Straße, wir mit Nachbarn und an der Planung Beteiligten diskutiert.

Neue Leideraad – Mensch als Maßstab

Das hier angewandte Prinzip ist mit der aktuellen Beschlusslage der Stadt zur grundsätzlichen Methode erhoben worden. Ein Paradigmenwechsel, der sich fast geräuschlos und für Aussenstehende wenig wahrnehmbar vollzogen hat. Informationen zum so genannten Nachhaltigen Urbanen Mobilitätsplan, findet man hier. In manchen Fällen ist auch von der Leideraad – der neuen Gestaltungsrichtline für Lebensqualität – die Rede. Entscheidend ist, dass die Straße als Raum nicht mehr durch die Belange der Verkehrsplanung gestaltet wird. Die Funktion des Straßenraums wird sehr viel umfassender verstanden, nämlich für „…Grün, Sport, Spiel und Begegnung, mit weniger Platz für geparkte Autos und Fahrräder.“ In einer Veröffentlichung heißt es dazu (frei übersetzt): >> Der Leitfaden verwendet Fotos, Profile, 3D-Bilder und kurze Erklärungen, um den sich verändernden öffentlichen Raum zu visualisieren. Nicht mit Designs, sondern mit inspirierenden Bildern. Straßen werden regelmäßig in Angriff genommen, zum Beispiel für den Austausch der Kanalisation, die Verlegung von Kabeln und Rohren und den Bau eines Wärmenetzes. Die Leidraad bietet dann visuelle Ideen für ein neues Design. Diese Bilder können helfen, mit Quartieren und Straßen über die Chance auf eine Verbesserung der Lebensqualität zu sprechen, wenn beispielsweise weniger Parkplätze zur Verfügung stehen.<<
Auch an mir wäre die Entwicklung fast vorbei gegangen, wenn nicht der „Fietsprofessor“ vom Urban Cycling Institute mit einem beliebten Meme darauf aufmerksam gemacht hätte

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Per Rad durch Groningen

Wenn ich von Sveas Straße zurück ins Zentrum fahre, habe ich eine Reihe angenehmer Alternativrouten. Im Park ist an diesem Abend die Hölle los – überall wird gegrillt, gechillt und geredet. Die ehemalige Autostraße hier ist ein nicht enden wollender Strom von Radfahrern unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Zielen und Rädern und Geräten – vom Grill bis zum Hockeyschläger. Manche sind alleine unterwegs, manche in Gruppen, alle frei und individuell und ungefährdet. Mit dem Wunsch zu verstehen und zu berichten, sehe ich manche Dinge anders. Hier kann jeder jeden sehen, in voller Größe, Blickkontakt ist möglich, Kommunikation. An der Kreuzung stehen wir dicht zusammen, man müsste nur die Hand ausstrecken, um sich gegenseitig zu berühren. Und das ist in der ganzen Stadt so. Als ich einen Tag später zurück nach Oldenburg fahre, kommt mir diese Stadt am Abend seltsam ausgestorben vor. Es gibt nur wenige Radfahrer zu sehen im Vergleich und sie sind an den Rand gedrängt. Lebendige Begegnungsräume, wo Menschen sich für alle sichtbar treffen und von A nach B bewegen, scheint es hier nicht zu geben. Stattdessen Autos und viel Platz für diese Fahrzeuge. Die unmittelbare Gefahr, die von ihnen ausgeht ist mir bewusst. Wenn man Menschen darin sieht, erscheinen sie körperlos.

Hier gibt es einen tollen Streetfilms-Beitrag zur Stadt Groningen

Zur Frage zu den Hintergründen der unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland und zum Beispiel den Niederlanden äußert sich die Historikerin Anne Ebert vom technischen Museum in Wien im Rahmen des Fahrradpodcast „Radfunk“ des Deutschlandfunk (ab ca. Minute 4:50).

Amsterdam bei Nacht

)* Ich habe Chris und Propel Bikes in Brooklyn kennen gelernt – wir waren quasi Nachbarn im Navyyard. Er war es, der schon früh sagte: „Frank, vielleicht schreibst Du einmal ein Buch.“ Und ich habe den Kopf geschüttelt und gelacht. Und jetzt macht der Rad begeisterte US-Amerikaner spannende Filme. Hier zum Thema Radinfrastruktur in Amsterdam. Er ist unterwegs mit Jason Slaughter von „Not just Bikes“ (Youtube). Die Idee, Amsterdam bei Nacht zu bereisen, zeigt viele alltägliche Errungenschaften buchstäblich auch in einem anderen Licht.

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