Die niederländische Stadt Utrecht gilt als Vorzeigestadt in Sachen Radverkehr. Hier findet man das größte Fahrradparkhaus der Welt. 12.500 Fahrräder finden hier in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Platz. Aber nicht nur das: eine Vielzahl der Fahrten in der Stadt unternehmen die Einwohner per Rad – 43 Prozent der Strecken bis 7,5 Kilometer und sogar 60 Prozent der Fahrten ins Zentrum. Und die Stadt selbst wird gefühlt auf den Kopf gestellt. Da wo früher Autos dominierten, werden heute historische Kanäle wieder hergestellt. Wir wollten wissen, wie sich das anfühlt und haben uns in unmittelbarerer Nähe zu Fahrradstation und Zentrum einquartiert. Der Blick aus dem Fenster in Ost-West-Richtung zeigt oft einen nicht enden wollenden Strom aus Radfahrenden. Schauen wir nach rechts, sehen wir die breite Einfahrt zur dreigeschossigen Fahrradstation. Wir wollen mitschwimmen in diesem Strom und schwingen uns am kommenden Tag selbst aufs Rad. Eine unspektakuläre und gerade deshalb schöne Erfahrung.
Utrecht – besser ohne Auto
Wir reisen mit dem Auto an. Keine gute Idee, denn der Umbruch in der niederländischen Stadt Utrecht ist so umfassend, dass nicht nur aktuelle Baustellen, sondern auch die auf Dauer geänderte Verkehrsführungen für Verwirrung sorgen. Dass wir ins Herz der aktuellen Entwicklung vorstoßen – das Zentrum rund um dem Bahnhof – macht es nicht eben besser. Es ist, als kämen wir in einem Ballkleid auf eine Indierock-Party. Wir sind nicht nur „overdressed“ – es ist als kämen wir aus einer anderen Zeit.
Im Grunde verwundert es nicht, dass ein paar Wochen nach unserem Besuch das Bild eines Deutschen SUV durchs Netz kursiert, dessen Fahrer sich in die Einfahrt des weltgrößten Fahrradparkhauses verirrt hat. Ein Sinnbild sicherlich und vielleicht auch Konsequenz des jetzt schnellen Umbruchs in der Stadt, daraus resultierend verwirrenden Navigationsinformationen und ja: auch falschen Erwartungshaltungen. Denn so groß und einladend wie hier, baut man andernorts nur für PKW.
Außerhalb des unmittelbaren Stadtkerns von Utrecht, auf den Autobahnen und Zufahrtsstraßen, ist das Auto allerdings gut vertreten. Vielspurig geht es durch die dicht besiedelte Region und weder aufgrund des Verhaltens noch wegen mangelnder Verkehrsdichte, wähnt man sich in einem Fahrradland.
Stippvisite in der Fahrradstadt
Irgendwie finden wir dann doch die Einfahrt zur (PKW-)Tiefgarage und damit den Zugang zum Hotel. Wir haben ein Zimmer im siebten Stock und die bodentiefen Fenster eröffnen einen spektakulären Blick – auf eine der Hauptachsen des Radverkehrs in Utrecht. Zu den Stoßzeiten filme ich regelmäßig entlang des Baufeldes im unmittelbaren Zufahrtsbereich zur erweiterten Radstation. Es ist kalt und regnerisch, es ist früh dunkel und nebelig. Und die Menschen fahren Rad. Natürlich tun sie das. Zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Junge ebenso wie alte, Frauen, Männer – einfach alle. Jenseits von Zahlen, Fakten und verkehrsplanerischen Grundsätzen bin ich genau deswegen hierher gekommen. Um zu sehen und zu erleben, wie sich Menschen in einer fahrradfreundlichen Umgebung bewegen.
Es gibt nicht viele Professionen, die sich mit solchen Beobachtungen zufrieden geben würden. Aber ich glaube, dass wir dem Faktor Mensch, dem konkreten menschlichen Verhalten und den daraus resultierenden Anforderungen an Gestaltung und Kommunikation viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Natürlich ist es so, dass sichere und komfortable Infrastruktur Radfahrer anzieht. Sprich: Menschen aufs Rad bewegt. Und gleichzeitig ermöglicht der damit einhergehende Wandel ein anderes, positives Erleben und ein anderes Miteinander. Rad fahren ist dann wie ein Spiel, habe ich einmal geschrieben. Und zwar eines, das wir gerne spielen. Das uns nicht überfordert und gleichzeitig fordert. Und wo wir keine Angst haben müssen, dass jemand „unfair“ in das System eingreift. Zum Beispiel indem er mit einem viel zu großen Fahrzeug gefährlich – manchmal sogar tödlich – in das Mensch gerechte Spiel eingreift.
Für meine Zwecke ist es völlig ausreichend auf diese Art und Weise zu beobachten und es selbst zu erleben. Es ist sogar mehr als ich zum Beispiel in Bezug auf weit entfernte Destinationen wie Bogota, Kolumbien oder Mexiko erreichen kann. Am nächsten Tag schwingen wir uns deshalb aufs Rad.
Per Rad Utrecht erkunden
Es ist genau das, was ich schon seit einigen Jahren mache: ich beschäftige mich intensiv mit Fragen und Antworten rund um das Thema Radverkehr, Fahrradalltag und -kultur. Und tauche immer wieder gerne ein – vor allen Dingen in urbane Umgebungen – unterhalte mich mit Menschen und versuche durch Beobachtung heraus zu finden, wo Unterschiede liegen und wie sich Entwicklungen konkret auswirken. Hier in Utrecht beschränkt sich der Kontakt auf dem Fahrradverleih und die Interaktion zwischen mir meiner Mitradlerin. Und die Beobachtungen des Verkehrs. Dabei wird überdeutlich: wir haben Platz. Nebeneinander Rad zu fahren ist kein Fehler, sondern an viele Orten genau so vorgesehen. Autos – Auto fahrende – sind im Zentrum absolut in der Minderheit. Und das merkt am sehr deutlich im entspannten Miteinander der Rad fahrenden und zu Fuß gehenden. Genau das meine ich, wenn ich von einem spielerischen Anreiz spreche. Selbst etwas abseits der Innenstadt sind die Wege für Rad fahrende breit und sicher, das Fahren angenehm und Autoverkehr entschärft. In Verbindung mit verkehrsberuhigten Straßen in den Wohnvierteln und breiten separat und damit völlig abseits des sonstigen Verkehrs geführten Radwegen, entfaltet sich eine echte Fahrradstadt.
In den vergangenen Jahren wurden zudem Sünden der Vergangenheit zurück gebaut. Einstmals mehrspurige Straßen zeichnen sich heute durch hervorragende Fahrradinfrastruktur in Verbindung mit Grün- und Aufenthaltsflächen aus. Kaum vorstellbar an machen Orten, dass es überhaupt einmal anders aussah. Dabei ging das nicht von heute auf morgen.
Stadtautobahn weicht Kanal
Am eindrucksvollsten wird der Wandel durch den Rückbau der Stadtautobahn dokumentiert. Auch Utrecht entwickelte sich nach dem 2. Weltkrieg zu einer autogerechten Stadt. Dass, was man in Amsterdam gerade so verhindern konnte, wurde hier Realität: ein 900 Jahre alter Kanal wurde kurzerhand zur Schnellstraße mitten durchs Zentrum der Stadt. Und jetzt – rund vier Jahrzehnte später – stehen wir vor den letzten erkennbaren Baustellen dieses Rückbaus. Mancherorts ist der Kanal schon wieder mit Wasser gefüllt. Nur mit Hilfe von Bildern ist überhaupt vorstellbar, dass es einmal anders gewesen sein soll. Und die sind durchaus eindrucksvoll und inspirierend, wie der vorher-nachher Vergleich zeigt.
Utrecht zeigt auf, was möglich ist. Menschen, die hier aufgewachsen sind und ihr Leben verbracht haben, dürften sich verwundert die Augen reiben, sich inständig freuen oder – je nach Lebensalter – Geschichten von früher anhören. Heute ist die Stadt auf jeden Fall kurz davor ein Idealbild einer fahrradfreundlichen und damit auch menschengerechten Stadt abzubilden. Soviel wird auch bei einer Stippvisite und eine kurzen Erkundung per Rad klar. Dies gilt zumindest innerhalb der Stadtgrenzen. Denn auf der Autobahn in Richtung Heimat, hat uns der normale Autowahn bereits wieder. Ehe wir uns versehen, sind wir Teil davon.
Erst kürzlich hat der Fahrrad-Blogger Mark Wagenbuur einen tollen Beitrag veröffentlicht, der viele vorher/nachher Bilder und zum Schluss ein eindrucksvolles Video enthält.
Exkurs Amsterdam und Niederlande
Wenn ich schreibe, dass man die Entwicklung in Amsterdam „gerade so“ verhindern konnte, wird das vielleicht der historischen Dimension nur unzureichend gerecht. In diesem Zusammenhang empfehle ich das Video des Urban Cycling Institute zur Situation rund um den Neumarkt (vor allen Dingen in den 70iger Jahren). Die Untertitel sind leider schwer zu lesen, es lohnt sich aber die Geschichte zu verstehen. Mich hat der Bericht nachdenklich zurück gelassen.
Und das die Niederlande keineswegs ausschließlich ein Fahrradland ist, sondern das auch hier das Auto nach wie vor Wachstum bei Zulassungen und Wegen aufweist, zeigen die Betrachtungen zum Thema „Staubekämpfung in den Niederlanden“ der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster (vor allen Dingen Einführung und das Kapitel Agenda 2040). Sie machen sehr deutlich, warum man sich auf den Straßen außerhalb der unmittelbaren Zentren von Amsterdam, Utrecht oder Rotterdam so vorkommt wie oben beschrieben.