Ich war noch nie zuvor in Budapest und ich war mega gespannt. Nicht nur, dass hier die größte Critical Mass weltweit stattgefunden hat: 100.000 Radler sind schätzungsweise 2013 dabei gewesen. Auch im Zuge der Pandemie war immer wieder von einem massiven Ausbau der Pop-Up-Infrastruktur in der Donaustadt die Rede. Budapest wurde dabei in einem Atemzug mit Bogota, Paris und auch Berlin genannt. Mit Radlern und Aktiven in Südamerika konnte ich bislang nur per Video-Call sprechen. Aber Ungarn liegt trotz aller Einschränkungen und Pandemie bedingter Vorsicht in erreichbarer Nähe. Ich wollte wissen: wie ist es in Budapest mit dem Rad unterwegs zu sein, wie sieht diese neu angelegte Infrastruktur aus und was für Menschen sind hier mit dem Rad unterwegs.
Budapest – so weit und doch so nah
Budapest ist von Büppel (meinem Heimatdorf) rund 1.200 Kilometer entfernt. Und als es meinem Sohn zum Studium dorthin zieht, ergreife ich die Gelegenheit in zu begleiten. Neben praktischen Überlegungen – selbst ein kleiner Umzug bringt ja immer Aufwand mit sich – stand Budapest spätestens seit letztem Jahr auf meiner Reiseliste. Denn Städte, in denen sich etwas in Sachen Radverkehr tut, ziehen mich magisch an. Und genau so schien es in Budapest zu sein. Am besten kann ich die Indizien die mir dafür vorlagen und mich neugierig gemacht haben, mit Bogota vergleichen. Hier habe ich es immerhin hinbekommen, mit einer Rad- und Verkehrsaktivistin per Video-Call zu sprechen und trotz Zeitverschiebung und Sprachbarriere Informationen auszutauschen. Den Versuch habe ich in Bezug auf Budapest gar nicht erst unternommen, weil mir klar war: ich kann und sollte es mir anschauen. Vielleicht sollte ich genau das auch mit Bogota so handhaben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Biking the city
Der erste Eindruck von Budapest entspricht dem in vielen europäischen Städten: in der Stadt gibt es unfassbar viele Autos. Wenn man an einem Sonntag ankommt, so wie wir, und dabei mehr oder weniger direkt ins Zentrum fährt, sieht man es vor allen Dingen an den stehenden Fahrzeugen. Unter der Woche und dann im gesamten Stadtgebiet, teils auf sechsspurigen Straßen rund um die historische Altstadt ist buchstäblich die Hölle los.
Ich gebe es direkt zu: ich habe mich innerhalb weniger Tage in Budapest verguckt. Vielleicht hat es auch nur ein paar Stunden gedauert. Es war nicht die Liebe auf den ersten Blick wie vor genau fünf Jahren Brooklyn, aber in vielerlei Hinsicht erinnert mich die ungarische Metropole an den Stadtteil von New York – selbst eigentlich eine der größten Städte der Staaten. Und das liegt nicht nur an dem munteren Treiben und der Weltoffenheit, die durch die Straßen Budapests zieht. Es liegt vor allen Dingen auch an meinem Blick auf Radfahrer und Radverkehr. Hier wie dort, bewegen sie sich am Rand und sind doch mittendrin, selbstbewusst und dennoch in ständiger Gefahr. Ich sehe auch viele Frauen und vor allen Dingen junge Menschen auf dem Rad. Und gleichzeitig nur wenige Alte, Kinder oder Jugendliche. Man sieht und merkt, dass Rad fahren und Radverkehr in Budapest einen eigenen Stellenwert haben und anerkannt sind. Gleichzeitig ist der Öffentliche Nahverkehr anscheinend attraktiv genug, so dass Viele auf das Fahrrad verzichten. Oder sich nicht als Minderheit in eine vom Auto dominierte Stadt wagen. Die Parallelen sind so auffällig, dass ich zunächst das Gefühl und dann Hintergründe dazu erkannt habe. Und auch in Hinblick auf den Umbau der Infrastruktur geht man in NYC und Budapest ähnliche Wege.
Fahrspuren zu Radstreifen
Dem Autoverkehr ganze Fahrspuren abzunehmen und für den Radverkehr vorzusehen, führt zu eindeutigen Verteilungen und gesichertem Platz fürs Rad. In Berlin oder auch New York gibt es einige so genannte Protected Bikelanes – Abschnitte, die dauerhaft oder provisorisch mittels Absperrungen vom Autoverkehr getrennt werden. In Budapest oder so wie ich es verstanden habe auch in Bogota, fehlt – zumindest bei den zusätzlich während der Pandemie eingerichteten Fahrradspuren – dieser optimierte Schutz. In Budapest habe ich aber bei den Touren durch die Stadt nur wenige Abschnitte mit niedrigen Betonpollern gesehen. Mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt. Also vor allen Dingen abgestellte PKW auf diesen Spuren oder auch Autofahrern, die die Widmung der Spuren ignorieren und hier trotz allem fahren. Die abgefahrenen Rad-Piktogramme sprechen eine eindeutige Sprache.
Auch der planmäßige Ausbau der Radinfrastruktur entlang des Ufers der Donau inklusive aufgewerteten Aufenthaltsbereichen erinnert stark an NYC mit Parks (zum Beispiel Domino Park) und den Zonen am Hudson und East River. Die komplett autofreien Bereiche laden vor allen Dingen Pendler auf geeigneten Strecken ein und sind auch touristisch interessant. Eine dritte Übereinstimmung sind weitläufige Bereiche, die komplett vom Autoverkehr frei gehalten werden. In herausragendes Beispiel hierfür ist die Flussinsel in der Donau, unmittelbar im Stadtzentrum. Die ähnlich wie Prospekt Park in Brooklyn, der Central Park oder Governors Island zum Beispiel auch Rennradfahrer anzieht.
Radwege ins Nirgendwo
Eine vierte Parallele ist allgemeingültiger. Und sie ist mir tatsächlich erst mit etwas Abstand aufgefallen. Diese Parallele ist so universell, dass sie aus Radfahrersicht fast eine Art Binsenweisheit darstellt. Es ist nicht nur unfassbar nervig, sondern auch regelrecht gefährlich, dass bei allen Bemühungen temporär oder auch dauerhaft bessere Infrastruktur für den Radverkehr zu erreichten, die Lücken und Übergänge nicht berücksichtigt werden. Da hören zweispurige Radwege einfach irgendwo auf, Radstreifen knicken um 90 Grad ab und münden auf der Straße oder die Radverkehrsführung verschwindet in einem Dickicht aus Schildern, Pfeilen oder kleinen Piktogrammen und einzelnen Strichen, die irgendeine magische Wirkung entfalten sollen. Mir ist schon klar, dass nicht alles immer in der perfekten Reihenfolge oder gar zur gleichen Zeit fertig gestellt sein kann. Aber gerade temporäre Infrastrukturen zeigen doch, dass es möglich ist etwas einzurichten, wo vorher noch etwas anderes war. Warum also ist es selbst in diesem Fall so, dass sich Radfahrer auf einmal entweder mit viele weniger Platz oder weniger Orientierung begnügen müssen? Bzw. irgendwie selbst ihren mehr oder weniger unsicheren Weg finden müssen? An keiner Autobahnbaustelle dieser Welt, würde man am Ende keinen geeigneten Übergang, keine Lösung für die Einfädelung oder überhaupt keine passende Lösung vorfinden. Und es jedem Verkehrsteilnehmer selbst überlässt sich einen Weg zu bahnen.
Objektiv unsicher
In New York hatte ich eine Mitbewohnerin aus Kopenhagen, die aus genau diesem Grund in Brooklyn nicht aufs Rad steigen wollte. Und dort, wo ich selbst bei einer gemeinsamen Radtour, zu der ich sie überreden konnte, schon den nächsten sicheren und gut ausgebauten Abschnitt im Visier hatte, betonte sie, dass wir gerade mitten auf der Straße zwischen LKW standen. Und ich denke, viele Menschen in Budapest geht es ebenso: die temporären Radstreifen und der planmäßige Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur stellen eine positive Entwicklung und gute Rahmenbedingungen für viele Radfahrende dar. Die hingegen, die sicher und geschützt von A nach B kommen wollen, sehen vielleicht vor allen Dingen die Lücken und damit potentiell gefährlich Stellen auf ihren Wegen. Für Ältere, Kinder und Jugendliche ist diese lückenhafte Planung und Umsetzung ungeeignet für den Umstieg aufs Rad. Die ungebrochene Dominanz des Autoverkehrs macht es noch schlimmer. Dass in Budapest alle besser aufeinander acht geben scheinen als vielleicht anderenorts und nur wenige auf ihr Recht pochen und andere gefährden, wiegt es am Ende noch nicht auf.