Radfahren und Kopenhagen, das gehört doch irgendwie zusammen oder? Und Dänemark ist doch das Ziel für den Radurlaub schlechthin, nicht wahr? Für mich war es in diesem Jahr das erste Mal, dass ich im nahe gelegenen, nördlichen Nachbarland einen Radurlaub gemacht und die dänische Hauptstadt Kopenhagen per Rad erkundet habe. Die Stadt die beim Copenhagenize Index regelmäßig auf den vorderen Plätzen im weltweiten Städteranking landet und auch 2019 Platz 1 belegt. Vor den niederländischen Städten Amsterdam und Utrecht. Und was soll ich sagen: ich war massiv enttäuscht und verwundert.
Dänemark = Radurlaub
Dänemark, das Land zwischen den Meeren, gilt als Rad-Eldorado schlechthin. Und tatsächlich: schon bald nachdem wir von Fehmarn übergesetzt hatten, kamen wir aus dem freundlichen Grüßen nicht mehr heraus. Die ganzen Tage, würden wir immer wieder Reiseradler treffen. Auf den Straßen ebenso, wie beim Stelldichein auf den Campingplätzen. Wir fuhren die ersten Kilometer auf einer alten, umgenutzten Bahnstrecke. Kein toller Untergrund mit den voll beladenen Rädern, aber trotz des Schotters eine ansprechende Strecke, die uns ohne große Umschweife Richtung Nordosten führte. Wir, dass sind mein jüngerer Sohn und ich, sind ganz klassisch mit Campingausrüstung und Gepäckträgern bzw. Lowridern auf dem Rad unterwegs. Diese Tour war die Idee meines 21-jährigen Sohnes und auch das Ziel hatte er sich überlegt. Ich hatte geglaubt nichts zu vermissen und nach den ersten Kilometern auf dem Reiserad merkte ich, dass das eine Fehleinschätzung war. Wie konnte ich so lange darauf verzichten?
Wo Radfahren das natürlichste der Welt ist
Und ja, man merkt, dass Radfahren hier allgemein akzeptiert und anerkannt ist. Am Verhalten der Autofahrer und der Infrastruktur. Und doch sind einige Radwege fast zugewuchert und augenscheinlich lange (den ganzen Sommer und vielleicht auch letztes Jahr) nicht frei geschnitten worden. Und dass die Radrouten so eingerichtet sind, dass man die kleinen Orte quasi umfährt stellen wir auch erst später fest. Der Grund dafür erschließt sich uns nicht, auch nicht für das Fehlen einzelner Wegweiser an wichtigen Kreuzungen. So oder so erreichen wir nach wenigen Tagen die Hauptstadt Kopenhagen. Und ich bin echt enttäuscht. Das soll jetzt die Fahrradhauptstadt der Welt sein? Beim eigens nach der Stadt benannten Copenhagenize Index liegt Kopenhagen vor zwei bemerkenswerten niederländischen Städten: Amsterdam und Utrecht. Die Stadt erscheint mir extrem autozentriert, PKW´s überholen knapp und das Zentrum ist voller Fahrzeuge.
Dauerstau im Zentrum Kopenhagens
Zunächst denke ich es liegt an den Außenbezirken, aber um so weiter wir ins Zentrum kommen, umso enger wird es. Und irgendwo in der Nähe der Einkaufsmeilen und touristischen Highligths kommen die Blechlawinen zum Stehen. Was ist das hier? Das ist Kopenhagen? Dass Fahrzeuge auf Fahrradstreifen halten, ist alles andere als eine Seltenheit. Beim Rechtsabbiegen werden Autoverkehr und Radfahrstreifen so zusammengeführt, dass ein ungleicher Kampf zwischen Autos und Radlern herauf beschwört wird. Der Lastenradfahrer vor uns hebt nur noch hilflos die Hände, als ein Touristenbus ihm auf diese Art und Weise den Weg abschneidet. Auf meine Insta-Storys reagieren einige Freunde: auch sie empfanden das Radfahren in Kopenhagen als Herausforderung und teils stressig.
Auf dem Weg ins Hotel wird klar: ja, es gibt sie, diese attraktiven Routen durch die Stadt, ganz ohne Autoverkehr und mit gemischter Nutzung aus Radverkehr, Rückzugsraum und mit Spiel- und Sportanlagen daneben. Und doch sehen wir in einem Kreuzungsbereich einer solchen Strecke unseren ersten Beinaheunfall mit einem Kind und einem haltenden Auto. Mit alldem, hatte ich nicht gerechnet.
Copenhagenize Index: Kopenhagen bei Radverkehr vorn
Ich nehme mein Unverständnis mit in den Schlaf und als wir am nächsten Morgen in die Stadt aufbrechen, steht auch ein Besuch bei der Copenhagenize Design Co. auf dem Plan. Im Stadtnorden arbeitet ein interdisziplinäres Team für Städte und Institutionen weltweit. Unter anderem wird auch jedes Jahr der Index für die fahrradfreundlichste Stadt ermittelt. So wie ich es letztes Jahr in New York gelernt hatte, stiefeln wir einfach in das Office im dritte Stock eines alten Lagerhauses. Und James Thoem, der Direktor hier in Kopenhagen, scheint dieses Vorgehen wenig verwunderlich zu finden. Es gibt Kaffee und schon nach kurzer Zeit eine angeregte Diskussion. Meine Einschätzung und ersten Erfahrungen machen Thoem eher weniger glücklich. Bald stehen wir über eine Stadtkarte gebeugt und er erläutert mir, wo das fahrradfreundliche Kopenhagen zu finden ist. Auch der CEO Morten Kabell kommt hinzu und jetzt bin ich es, der über so viel Selbstverständlichkeit erstaunt ist. Es ist ein munteres Hin und Her und am Ende habe ich einen Stadtplan mit zahlreichen Kreisen, Kreuzen und Anmerkungen in der Hand. Und eigentlich wollte ich ja auch Urlaub machen und nicht auf Forschungsreise gehen.
Also dann: Radfahren in Kopenhagen
Die Karte leitet uns in den kommenden Tagen durch die dänische Hauptstadt. Viele Brücken stehen auf dem Programm. Solche die extra für den Rad- und Fußverkehr gebaut oder umgestaltet wurden und die das Zentrum mit umliegenden Stadtteilen verbinden und dabei alltägliche Wege kürzer und sicherer machen. Kreuzungsbereiche sind auf der Karte markiert, die aus Sicht internationaler Verkehrsplaner in Sachen Radverkehrsführung Maßstäbe setzen. Mich überzeugen eher die dutzenden Radfahrer, die sich je Ampelphase ansammeln. Wir lernen, dass es auch für Radfahrer eine Grüne Welle gibt: mit 20 km/h pendelt man ohne Ampelstopp ins Zentrum oder zurück. Auf der betreffenden Route liegt auch die Dronning Louise Brücke, die mir James und Morten zur Rushhour ans Herz gelegt haben. Und tatsächlich: als ich am Abend auf dieser Brücke sitze und den Tag Revue passieren lasse erkenne ich: Kopenhagen ist DIE Radfahrerstadt. Vielleicht tatsächlich noch vor Amsterdam. Und es liegt vor allen Dingen an den vielen, vielen unterschiedlichen Menschen, die das Fahrrad als ganz alltägliches Verkehrsmittel nutzen. An einem normalen Freitagabend, sieht man dort Menschen die in den Feierabend fahren, die Arbeitsklamotten noch an. Solche die eingekauft haben und auf alltäglichen Wege unterwegs sind und ebenso die, die schon ausgehfein sind. Alte, junge, Männer, Frauen – vor allen Dingen viele Frauen, würde schätzen mehr als die Hälfte – alleine, zu zweit (auch auf einem Rad), in der Gruppe (tatsächlich sehen wir mehr als einen Jungessellinnen-Abschied auf dem Rad), mit Holland-, Transport-, Trekking und Rennrädern. Kinder, Lampen und Tische werden auf dem Rad transportiert. Alles ist dabei, ein nicht enden wollender Strom.
Wir besuchen Fahrrad-Cafes und Fahrradläden. Im Bullitshop wird die Frage nach der Anzahl der verkauften Transpoträdern mit einem Lächeln beantwortet. „Viele, und es werden immer noch mehr von Jahr zu Jahr,“ heißt es dort. Überhaupt ist das Rad allgegenwärtig. In Schaufenstern, auf der Straße, in Abstellanlagen, im Hotel und in Szene-Vierteln. Zwischendurch denke selbst ich, dass es mir zu viel werden könnte.
Der Radurlaub geht weiter
Wir lassen Kopenhagen hinter uns und fahren zurück in Richtung Süden. Diesmal wissen wir, dass wir von der ausgeschilderten Route abweichen müssen, um in den Ort zu kommen. Und man kann deutliche Unterschiede erkennen – eine Art Stadt-Land-Gefälle zwischen der Hauptstadt Kopenhagen und den Wegen über die dänischen Halbinseln.
Warum war ich so irritiert von dieser Stadt, die als Fahrradhauptstadt gilt und in diesem Jahr erneut den Index für die fahrradfreundlichste Stadt anführt? Hatte ich zu viel erwartet? Nein, das ist es nicht. Es ist vielmehr die erschreckende Dominanz des Autos selbst in einer Fahrradstadt wie Kopenhagen. Der Raum, der dem motorisierten Individualverkehr zugestanden wird, ist allerorten absurd groß. Und die Tatsache, dass die Blechlawine gerade in den Zentren von Metropolen immer wieder zum Stehen kommt, dass sich sowohl Verkehrsraum als auch -verhalten an die unsinnige Größe der Fahrzeuge anpassen (müssen), ist mir in Kopenhagen auf extreme Art bewusst geworden. Oft genug, nehme ich die Situation andernorts als gegeben hin und halte sie ein Stück weit für unabänderlich. Oder ich denke darüber nach, wie man die Situation ändern oder verbessern kann. Kopenhagen hat mir vor Augen geführt, dass man viel radikaler Denken und Handeln muss. Es war ein verwunderter, aber gesunder Blick auf die Situation und den Autoverkehr in einer Stadt, in der fast die Hälfte aller Wege mit dem Rad zurück gelegt werden. Und das Auto immer noch zu viel Platz einnimmt.