Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob das was vor rund 75 Jahren im damaligen Ostpreußen geschehen ist, Einfluss auf mein Leben hatte. Genau genommen, kann ich nicht einmal genau sagen, was damals geschehen ist. Und vielleicht liegt darin das eigentliche Problem. Denn geredet wurde in unserer Familie nicht viel – nicht über diese Zeit und auch nicht über tiefe Gefühle und Abgründe. Schon gar nicht mit uns Kindern – selbst als wir erwachsen wurden. Klar ist mir aber, dass die Geschichte meiner Familie väterlicherseits eine Geschichte von Vertreibung und Entbehrung ist. Und das ich nicht nur in Gedanken, sondern immer wieder auch tatsächlich an den Ort des Geschehens – ganz oben im Nordosten Polens – zurück gekehrt bin. Obwohl ich selbst, geboren 1972, natürlich nie tatsächlich mit diesem Landstrich verbunden war. Und doch prägte er für mich so etwas wie den Begriff Heimat. Ironischerweise lag das Geburtshaus meines Vaters so malerisch schön auf einem Hügel, dass sich dieses oder ein ganz ähnliches Gefühl wohl auch bei anderen Menschen einstellt. Und die Gebäude des Hofes da oben auf der Anhöhe – einst Teil einer kleinen Siedlung – über Jahrzehnte die einzigen waren, die Krieg und Nachkriegszeit überdauerten.
Flucht und Vertreibung
Wenn ich heute über Krieg, Flucht und Vertreibung höre, sehe oder davon lese, dann denke ich an den langen Nachhall, den Angst und Traumatisierung haben werden. Ich bin nie selbst Opfer geworden, sondern wohl behütet aufgewachsen. Und doch glaube ich, dass die transgenerationale Erfahrung mich und mein Leben tief geprägt hat. Dabei lag der Krieg, die Flucht und die Besatzungserfahrung schon gut 25 Jahre zurück, als ich geboren wurde. Mit Blick auf mein eigenes Leben und die Erfahrungen die ich gemacht habe, eine Art Wimpernschlag – geschichtlich ebenso wie psychologisch. Heute ist die Wiedervereinigung Deutschlands 30 Jahre und damit länger her und es kommt mir vor, als ob es gestern war. Was vor rund 75 Jahren, davor und danach, geschehen ist, kann ich nur erahnen. Aber das gelingt mir sehr gut. Weil das was sich für mich spürbar in meiner Familie abgespielt hat, ein Widerhall des damaligen Geschehens gewesen sein muss. Geredet wurde nicht viel. Nicht über diese Zeit damals und auch nicht über Angst und Trauma, die zurück geblieben sein mussten. Und ich bin wohl nicht der Einzige, einer „Kriegsenkel“-Generation, der so groß geworden ist.
Transgenerational und ohne Worte
Und dabei war das ehemalige Ostpreußen weder die erste, noch die letzte Station auf dem Weg meiner Familie durch Europa. Wie und unter welchen Umständen diese damals als bekennende Protestanten aus dem Salzburger Land im heutigen Österreich in den Osten kamen, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Aber die Geschichte der Vertreibung und der Not kann ich in meiner Familie nachlesen wie in einem Buch. Einem Buch aus unterdrückten Gefühlen und verdrängten Ängsten, das nie geschrieben wurde. Aus diesem Grunde hat jeder der heute auf dieser Welt ähnliches erleben muss einen Platz in meinem Herzen.
Eigentlich ist damit fast alles gesagt. Vor allen Dingen deshalb, weil sich das Schweigen über alles ausgebreitet hat. Das was nicht in Worte zu fassen war und ist, kann auch nicht über Sprache weiter gegeben werden. Irgendwann habe ich Aufzeichnungen im Nachlass meines Vaters gefunden, die mir einen Eindruck vermittelt haben. Und zwar auch, wie schon das entbehrungsreiche Leben die Familie ganz ohne das Entsetzen des Krieges geprägt haben muss.
Flüchtlinge willkommen
Hier im Westen Deutschlands waren die Flüchtlinge aus dem Osten nach dem Krieg stigmatisiert. Zumindest ist das das, was mir im Hinterkopf geblieben ist und was ich aus verschiedenen Texten meine heraus gelesen zu haben. So richtig, will man das vielleicht nicht wahr haben, aber das ehemalige Ostpreußen ist weit weg von Oldenburg oder dem Ammerland. Seinen Status und seine gesellschaftliche Anerkennung, nimmt man auf der Flucht genauso wenig mit, wie seinen materiellen Besitz. Man steht sprichwörtlich vor dem Nichts. Und darum haben sich die „Neuankömmlinge“ wohl vor allen Dingen assimiliert. Auch dies ist schwer in Worte zu fassen und ich bin weit davon entfernt, irgendwem einen persönlichen Vorwurf zu machen.
Wenn es darum geht, Vertriebene und Flüchtende anzunehmen, müsste ich demgegenüber aber schon große Scheuklappen aufsetzen, um nicht zu erkennen, dass das immer und immer wieder passiert. Dass Menschen, die ohne Halt und Besitz in der Fremde ankommen, immer wieder Vorurteile und Missgunst entgegen schlagen. Hier und überall sonst auf der Welt. Dabei wäre das Gegenteil notwendig und richtig.