Es ist eine Zeitreise im doppelten Sinne: ich habe mich entschieden meine bereits an anderer Stelle veröffentlichten Radreiseberichte hier im Blog noch einmal aufzulegen. Die Reisen liegen einerseits selbst schon einige Zeit zurück und andererseits haben sie mich damals in meine eigene Vergangenheit bzw. die meiner Familie geführt. Ich hoffe, der eine oder andere hat Spaß daran über die Weihnachtsfeiertage diese (Zeit-)Radreisen mit mir zu unternehmen. Wir schreiben das Jahr 2003.
Als es um das Ziel meiner Radreise geht – muss ich nicht lange überlegen. Unser nächster östlicher Nachbar Polen übt schon seit langer Zeit eine große Anziehungskraft auf mich aus. Vor allen Dingen die Küste soll besonders ursprünglich sein. Aber auch das Binnenland im äußersten Nordosten im Dreiländereck, wo Polen an Russland und Litauen grenzt. Eine Zeitreise nicht nur deswegen, weil meine Familie ursprünglich aus dieser Region kommt. Nein, vor allen Dingen auch deshalb, weil ich mir erlebbare Veränderungen seit meinem letzten Aufenthalt Anfang der 90´er Jahre erhoffe und Eindrücke gewinnen will, was sich wohl hier in Zukunft entwickeln wird. Und ich verrate nicht zuviel, wenn ich sage: Zeitreisen per Velo sind möglich!
In den kommenden Beiträgen möchte ich von einer achttägigen Radreise berichten, die mit einer 22-stündigen Busfahrt nach Suwalki im Nordosten Polens beginnt und mich dann auf rund 1.000 Kilometern nach Westen in den Zielort Szczecin (Stettin) führt. Die Route verläuft zunächst nahe der Russischen Grenze über Goldap, Ketrzyn und Barniewo zum Frischen Haff. Über Elblag (Elbing) und Gdansk (Danzig) führt der Weg an die offene Ostsee und über Slupsk, Koszalin und Kolobrzeg (Kolberg) zum Zielort Szczecin.
Ein Hinweis vorweg: Wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, werde ich überwiegend die polnischen Städtenamen verwenden, so wie sie heute auch auf den Karten zu finden sind. Nur in Einzelfällen werden einmalig die ehemaligen deutschen Namen erscheinen.
Warum Polen?
Wer in den vergangenen nunmehr fast 15 Jahren seit der Wiedervereinigung Gelegenheit hatte den sogenannten „Aufbau Ost“ vor Ort nachzuvollziehen, weiß wie spannend die dynamische Entwicklung in den neuen Bundesländern von Statten ging. Für mich persönlich sind die eher wenigen Erfahrungen, durch berufliche oder private Anlässe, mit sehr viel positiven Erinnerungen verbunden. Der „Aufbau Ost“ wie man ihn aus den Nachrichten und der politischen Diskussion kennt, ist vor Ort und vielleicht mit Erfahrungen aus verschiedenen Besuchen eine prägende und bereichernde Erfahrung. Nicht nur in Ostberlin auch in anderen ostdeutschen Städten wie Jena oder Rostock sind die Städte und Menschen förmlich aufgeblüht.
An der Schwelle zu dieser Entwicklung steht meines Erachtens Polen. Nicht nur aufgrund des beschlossenen Beitritts zur EU. Aber vor allen Dingen auch mit einer ganz eigenen Entwicklung seit der politischen Wende.
Kaum einem Land gegenüber werden so viele Vorbehalte entgegen gebracht wie unserem direkten Nachbarn im Osten. Autoklau und ohnehin erhöhte Kriminalität, schlechte Straßen und Versorgung oder Vorbehalte gegenüber der deutschen Bevölkerung durch die Ereignisse während des Krieges, gehen fast jedem diesseits der Grenze durch den Kopf, wenn er Polen denkt. Auch ich bin, als ich mich auf die Reise begebe, nicht frei von solchen Gedanken, von Unsicherheit gegenüber dem was mich erwartet. Aber ich will sehen was dran ist und ich bin gespannt was mich erwartet. Auf den Spuren meiner Vorfahren möchte ich die als besonders ursprünglich bekannte Natur erleben.
Und warum mit dem Fahrrad? Das ich besonders gerne Fahrrad fahre, ist nur die halbe Wahrheit. Ich habe bei meinen bisherigen Reisen per Velo festgestellt, dass man dem bereisten Land und den Menschen kaum näher kommen kann, als wenn man mit dem Rad unterwegs ist. Außerdem ist das erlebte ehrlich und ungeschminkt. Die Anfahrt auf Gdansk z.B. führt über Kilometer durch die Rand- und Industriegebiete der Stadt. Der historische, dicht von Touristen besiedelte Kern ist nur ein kleiner Ausschnitt, der aber bei der Anreise mit Bus oder PKW den wesentlichen Anteil einnimmt – die Vorstadt fliegt in Minuten vorbei.
Vorbereitungen und Anreise
Polens Norden bot sich bei einem Blick auf die Landkarte als ideales Ziel an: 1. zieht es mich als Küstenkind immer wieder in die Nähe des Wassers und 2. wollte ich erneut nach 1992 den Geburtsort meines Vaters im äußersten Nordosten aufsuchen.
Die Möglichkeiten der Anreise mit der Option binnen weniger Tage ggf. zum Ausgangspunkt oder gar nach Hause zurück zu kehren schienen aber begrenzt. Eine Anreise an einem Tag fast unmöglich. Die Fahrt mit PKW nach Szczezin oder Berlin hätte lediglich die Möglichkeit einer in einer Schleife geführten Tour, die Gdansk einfängt geboten. Also keine Ahnenforschung im Osten der Republik? Den Ausweg lieferte der Linienbusverkehr ab Bremen, bei dem es auf Nachfrage sogar möglich ist das Rad mitzunehmen!
Das bedeutete: Anreise von Bremen ZOB in das rund 1.200 km entfernte Suwalki. Abfahrt 17:00 Uhr – Ankunft 15:00 am nächsten Tag. Von dort in acht Tagen die ca. 800 km zurück gen Westen mit dem Rad nach Szczezin. Dort in dieselbe Buslinie 212. Abfahrt 22:45 Uhr – Ankunft Bremen 7:00 Uhr. Der Linienbus bot die größtmögliche Flexibilität bei der Planung der Tour – er fährt nämlich täglich – und eine kurze An- und Abreise.
Darüber hinaus kommt man schon in Bremen auf polnischem Terrain an: Der Bus wird überwiegend von polnischen Staatsbürgern zur An- und Abreise genutzt. Ab Lübeck ist der Bus an diesem Mittwoch Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Im Fernsehen läuft ein amerikanischer Film – polnisch synchronisiert – von einem Sprecher, der alle männlichen und weiblichen Darsteller übersetzt.
Als am nächsten Tag die Sonne aufgeht, sind wir schon in Polen. Hügelig ist´s. In den Orten stehen Neubauten, halbfertige Häuser und verfallene Altbauten gesellig nebeneinander. Halbfertige, aber dennoch bewohnte Einfamilienhäuser sind in Polen keine Seltenheit, eher im Gegenteil! Und überall prangt Werbung insbesondere auch deutscher Firmen – überwiegend Baustoffhersteller, aber durchaus auch für Lebensmittelketten und Konsumgüter. OBI-Märkte sehe ich an diesem Tag öfter…
Erst im östlichen Landesteil wird der Bus merklich leerer. Jetzt setzt langsam das ein was ich mit „Fluchtreflex“ umschreiben möchte. War es wirklich richtig hierher zu kommen? Sollte ich nicht besser früher aussteigen – dann ist es nicht so weit zurück. Oder gleich am Ziel im Bus sitzen bleiben? Auch diese Gedanken gehen vorüber und nachdem wir in Olsztyn (Allenstein) mit nunmehr nur noch zwölf Fahrgästen in einen kleinen Sprinterbus umgestiegen sind, kommen wir nach 22 Stunden pünktlich um 15:00 Uhr in Suwalki an.
Von Suwalki nach Jemieliste
Der Taxifahrer am Busbahnhof Suwalkis schaut etwas mitleidig auf den Haufen Gepäck und das halb zerlegte Fahrrad, das ich gerade aus dem Bus gehieft habe. Nein, beteuere ich auf dreimalige Nachfrage, ich brauche kein Taxi. Ich kann zwar nur zehn Worte polnisch, aber hier war die Fragestellung klar. Nun, wenn ich schon nicht mit will, dann packt er wenigstens mit an! Nach zehn Minuten ist alles fertig – die Vorderradachse ist locker – super! Fotoapparat ausgepackt Foto gemacht – der Blick meines freundlichen Helfers spricht Bände. Do widzenia (Auf Wiedersehen!) – und los geht´s.
Suwalki hat rund 70.000 Einwohner und gehörte bereits vor dem Krieg zu Polen. Ein heißes Pflaster scheint mir, der ich wie gesagt nicht frei von Vorbehalten bin. Die beiden Kollegen, die mit Sonnenbrillen in einer dunklen(!) hölzernen Bude Geld wechseln, tragen nicht gerade zu meinem Vertrauen bei. Nach wenigen Kilometern habe ich die Touristeninformation gefunden. Auf englisch erkundige ich mich nach einer Unterkunft am Ort. Meine Frage nach einem Campingplatz löst Verwunderung aus: Die wären erst im Sommer geöffnet und der beginnt in Polen am 24. Juni. Meine Annahme in der Vorplanung, dass der Unterschied zwischen 12. Juni und 24. Juni wohl nicht so gravierend ist, erweist sich tatsächlich als grobe Fehleinschätzung. Mein Campinggepäck hätte ich getrost zu Hause lassen können – ich habe auf der ganzen Tour nicht ein einziges Mal auf einem Campingplatz genächtigt.
Nun denn, zurück zur Quartiersuche. Nachdem meine Fahrtrichtung geklärt ist, tun die Mitarbeiterinnen eine Unterkunft im ca. 20 km entfernten Jemieliste auf. Ein Anruf bei der Wirtin – wie lange ich brauche – eine Stunde… Stirnrunzeln! Auf deutsch und englisch erklärt man mir den Weg. Kurz hinter Suwalki geht es steil bergauf und danach wieder bergab. Ach ja, Höhenunterschiede von 100 Metern stand im Reiseführer – von Westwind, der einem selbst die Abfahrten vermiest, stand da aber nichts. Nach viel auf und ab bin ich im nächsten größeren Ort – hinter Jemieliste. 25 km zeigt der Kilometerzähler. In einem kleinen Laden erklärt mir die Besitzerin in blumigen Worten, dass ich zu weit gefahren bin. Mit ausgestreckten Fingern verhandeln wir wie viele Kilometer Jemieliste zurück liegt. Drei? Nein, fünf! Fünf Kilometer Berg- und Talfahrt! Als ich Flachland-Cowboy endlich ankomme, bin ich fix und fertig. Die Stunde ist längst um. Jemieliste ist nicht ausgeschildert und nur 20 Einwohner groß. Das Zimmer wird von der örtlichen Ladenbesitzerin vermietet. Bei einem Piwo – einem halben Liter polnischen Bier – nehme ich nach dem Duschen das Vorderrad in Angriff. Die richtigen Schlüssel habe ich natürlich vergessen. In dieser Nacht schlafe ich wie ein Stein!
Fortsetzung folgt! (Teil II findet Ihr hier…)