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Radreisen

Radreise: Baltikum per Rad II

Die Radreise durch das Baltikum ist schon einige Zeit her (hier findet ihr Teil 1). 2007 war der Beitritt zur EU noch vergleichsweise frisch. Die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland haben nach der „Singenden Revolution“ mit großen Schritten den Weg in Richtung Europa zurück gelegt. Dabei sind die drei ehemalige sowjetischen Provinzen sehr unterschiedlich und suchen sich im europäische Verbund verschiedene Bündnispartner. Und auch wenn wir aller Orten auf verschiedenste EU-Projekte trafen – es blieb noch viel zu tun. So manche „Waschbrettpiste“ wartet vielleicht noch heute auf eine Asphaltdecke? Der zweite Teil der Serie Baltikum per Rad, führt von Lettland über die Grenze nach Litauen und entlang der Küste bis auf die Kurische Nehrung und an die russische Grenze zur Enklave Kaliningrad.

Klaipeda – Alt Memel und die Kurische Nehrung sind der Inbegriff von Litauen und vielleicht sogar des Baltikums insgesamt. Die Ostseeküste mit dem schmalen Streifen Land, der Dichter und Denker wie Thomas Mann inspirierte, begeistert mit einer abwechslungsreichen Flora und Fauna auch heute die Touristen. Auf den imposanten Dünen stehend, die eine Wüstenlandschaft vorgaukeln, hat man das Haff einerseits und die Festlandsküste andererseits im Blick. In Nida kommt neben der historischen Größe auch das Spannungsfeld der unmittelbaren Nachbarschaft zur russischen Exklave Kaliningrad zum Ausdruck. Auf dem Festland das Memeldelta und der Flusslauf des Nemunas, der unmittelbar im Grenzgebiet verläuft. 

Rallye-Feeling im Baltikum

Vom Wetter und den überwiegend asphaltierten Straßenoberflächen verwöhnt starten wir am Morgen des zweiten Tourtages weiter in Richtung Süden. In Jaunpils versorgen wir uns zum Frühstück und werden von zwei Mädchen im Grundschulalter neugierig beäugt. Schmunzelnd und glucksend nähern sie sich mit ihren Chipstüten immer mehr von hinten unserem Frühstücksplatz auf einer Bank. Überhaupt fällt uns auf, dass Jugendliche und Kinder denen in unserer Heimat sehr ähnlich sind. Während die Älteren eher zurückhaltend sind und ein Leben wie vor 50 (oder 70?) Jahren zu führen scheinen, sehen wir viele junge Menschen mit MP3-Playern oder mit ihrem Handy hantieren. 

Legendär: die Schotterpisten im Baltikum. Teils mit faustgroßen Steinen

Zunächst geht es wie am Vortag weiter: asphaltierte Straße, wenige Autos, sanft hügelige Landschaft bei blauem Himmel. Als die Straße sich in einer Staubwolke auflöst, glauben wir zunächst an eine Baustelle. Was uns jedoch erwartet, ist eine der sagenumwobenen „Waschbrettpisten“. Fast 30 Kilometer geht es auf einer Schotterpiste durch den Wald. Zu allem Überfluss fängt es auch noch an zu regnen – und auf der breiten Trasse ist kaum ein Streifen zu finden auf dem man mit dem Rad vernünftig fahren könnte. Der Autoverkehr hat nicht zugenommen, aber durch unseren Schlingerkurs und dadurch, dass die Autofahrer mit unverminderter Geschwindigkeit diesen Streckenabschnitt befahren, wächst die Unsicherheit. Man hat das Gefühl mit dem Fahrrad auf der Strecke einer Rallye in Finnland gelandet zu sein!

Per Rad zum Treckertreff

Irgendwann legt sich der Staub und wir fahren wieder auf einer befestigten Straße, als sei nichts gewesen. Passend dazu klart der Himmel wieder auf. Der Weg führt nach Auce einer grenznahen Kleinstadt, in der an diesem Samstag gut besuchte Landtage statt finden. Wir haben uns zum Mittag unter die Besucher einer Trecker-Ausstellung (mit Probepflügen) am Ortsrand gemischt. Bei Schaschlik und Pommes aus der Riesenpfanne, sowie Bier und „Räuberkaffee“ sind auch fachmännische Unterhaltungen auf Englisch zu vernehmen. 

Ausguck: hier waren zehntausende Kormorane in den Bäumen zu sehen

Zunächst versuchen wir danach in Richtung Westen an der Grenze entlang unser Glück, aber nur wenige Kilometer nach dem Ortsausgang veranlasst uns das nunmehr bekannte Bild einer Rüttelpiste umzukehren und unmittelbar südlich von Auce die Grenze zu überqueren. Der Grenzübertritt ist unproblematisch. Zwar ist dahinter die Straße nicht wirklich besser, aber nach gut 15 Kilometern erreichen wir den ersten litauischen Ort. Uns kommt es rückwirkend so vor, als ob der Zustand der Straßen in Litauen insgesamt besser ist als in Lettland. Durch den Tipp eines Rad fahrenden Litauers, mit dem wir uns in einer Mischung aus Landessprache, Englisch und Deutsch verständigen, können wir einige Kilometer sparen und kommen so auf die Hauptstraße nach Mazeikai. Viele junge Leute in den baltischen Staaten lernen mittlerweile in der Schule auch Deutsch, Englisch ohnehin. Beispielhaft ist folgendes Gespräch mit einer Gruppe Jugendlichen bei der Suche nach einem Hotel vor Ort: „Das anybody of you speak english?“ Antwort: „…ein bisschen.“ „Oh – ein bisschen – that´s good.“
Mazeikai ist kein schöner Ort und die letzten Kilometer sind von erneut einsetzendem Regen und starkem Autoverkehr geprägt. In unserem kleinen Hotelzimmer mitten in einer Hochhaussiedlung schmieden wir Pläne, um am nächsten Tag erneut bis zur Ostseeküste vorzustoßen.

EU Förderung

Frustration macht sich breit, nachdem am Morgen zum Regen und Autoverkehr auch noch strammer Gegenwind hinzukommt. Nur mühsam ist ein Vorankommen möglich, so dass wir zum Mittag (um 15:00 Uhr) kurz vor Skuodas nur ca. 45 Kilometer auf dem Tacho haben. Auch die landschaftlichen Reize halten sich bei bedecktem Himmel in Grenzen. Hinter Skuodas verlassen wir die Hauptstraße, das Wetter klart auf und wir fahren auf einer schmalen Nebenstrecke unmittelbar an der lettischen Grenze durch eine tolle, mit Wald und Feldern abwechslungsreiche Landschaft. In den kleinen Orten nutzen viele Menschen den aufklarenden Sonntagnachmittag an der frischen Luft. Beschauliche kleine Holzhäuschen mit Gemüsegarten, ein antiquiertes Zelt für die Kinder – der Sonntagsbesuch wird verabschiedet. Frohen Mutes radeln wir der Küste entgegen. Man kann die Ostsee förmlich schmecken, als die ersten Windräder am Horizont auftauchen. Gerade rechtzeitig scheint eine Waschbrettpiste für uns saniert worden zu sein und so vergehen die letzten Kilometer der Küstenetappe wie im Flug. Die frisch sanierte Straße ist eines von zahlreichen EU-geförderten Projekten, auf das wir auf unserem Weg durch große Schilder aufmerksam gemacht werden. Kläranlagen, Freizeiteinrichtungen, Straßen und Fahrradwege (!) gehören dazu. Im Fernsehen wird sogar für die rund 7 Milliarden Euro geworben, die Litauen in der Zeit von 2007 bis 2013 aus den EU-Töpfen zur Verfügung gestellt werden. 

Wind unter den Flügeln: für die Förderung durch EU-Gelder, wurde sogar im Fernsehen geworben

Wir erreichen Palanga einen kleinen Küstenbadeort mit eigenem Flughafen und nachdem wir unser Zimmer in einer Pension bezogen haben, machen wir uns auf den Weg zum Strand. Am Himmel sind nur noch einige Schäfchenwolken zu sehen, als wir über die Düne zum Wasser gehen, um den Sonnenuntergang zu genießen. Als es dämmrig wird, gehen wir am Strand entlang zur Mole, die kilometerweit zu sehen ist, da sie rund 600 Meter in die Ostsee ragt. Es ist schon dunkel, als wir von der Mole geradewegs in den Ort gehen, um zu erleben worauf uns später einige ansprechen: Das Nachtleben von Palanga, mit Karussells, Bars, Buden und Tanz ist weithin bekannt. Verschlafen sind die baltischen Staaten beim besten Willen nicht.

Palanga: die Küste ist sowohl in Litauen. als auch in Lettland vielerorts atemberaubend schön

Europaradweg Radweg R10

Wir starten in einen hellen Sonnentag und nehmen schon in Palanga die Fährte des Radwegs R10 auf. Er führt aus dem beschaulichen Küstenort in südlicher Richtung und leitet die Radler abseits der befahrenen Küstenstraße auf Nebenstrecken und asphaltierten Radwegen durch den für die Ostseeküste typischen Kiefernwald und die Niederungen; vorbei an zahlreichen neuen Einrichtungen für Tourismus, Freizeit und Erholung. Irgendwo finden wir eine Naturstation mit Ausblick auf eine Wasserfläche im unmittelbaren Uferstreifen: Erstaunt und begeistert blicken wir aus dem Ausguck. Es sind diese fast zufälligen und doch inszenierten Einblicke in die Natur und Landschaft, die für uns den besonderen Reiz der baltischen Ostseeküste ausmachen. Auch als wir uns Klaipeda – Alt-Memel – nähern, verliert sich dieser Eindruck kaum. Natürlich ist der Alte Hafen, wo die Fähre für Radler und Fußgänger auf die Kurische Nehrung übersetzt, kein Naturreservat. Im Gegenteil – der Umschlag von Gütern floriert augenscheinlich. Und doch wirkt die Stadt wie viele Orte auf dieser Tour nicht als Störfaktor in der ländlichen Umgebung.

Ausguck II: Natur erleben und sanfter Tourismus scheint im Baltikum ausgemachte Sache

Alt-Memel: Klaipeda

Den Fähranleger finden wir dank der freundlichen Unterstützung eines finnischen Radlers, der rund um Klaipeda und auf der Nehrung auf Tour ist. Schilder, so erfahren wir von ihm, sind trotz der guten Ausschilderung des Radweges R10, der auf der Nehrung weiter geht, in Klaipeda selbst Mangelware. „Have you seen any kind of signs for the ferry?“ fragt er mich “No? Because there are no signs!” sagt er und lacht dabei. Der Verkehr durch den wir dabei auf dem Weg ins Zentrum radeln ist dicht, aber auch hier kein Vergleich mit anderen Städten, wie beispielsweise Riga. 

Klaipeda und Kurische Nehrung sind wirklich sehenswert

Unmittelbar am Anleger findet sich auch die historische Altstadt. Hinter dem liebevoll restaurierten Theaterplatz, auf dem sich Bernsteinverkäufer mit uniformen Ständen platziert haben, ragen moderne Hochhäuser mit Sonnenterrassen auf dem Dach in den Himmel. Die Altstadt mit dem nahen Hafen wirkt fast anheimelnd, der Rest berichtet uns unser Begleiter, sei weniger sehenswert. Wir können es nicht beurteilen, weil wir uns auf die kurze Überfahrt zur Kurischen Nehrung machen. 

Kurische Nehrung

Auch weitere wertvolle Tipps haben wir erhalten. So erfahren wir das in Nida, unmittelbar an der Grenze zu Russland der einzige Campingplatz der Halbinsel ist und dieser rund 60 Kilometer vom Anleger entfernt liegt. Eine entspannte Fahrt liegt vor uns. Die Sonne hat mittlerweile ihren Höchststand erreicht und es ist herrlich warm geworden. Wir fahren weiter auf eigens angelegten Radwegen durch Dünen- und Kiefernwaldlandschaften. Zunächst haben wir dabei auf der linken Seite Klaipeda im Blick, wechseln dann aber auf die andere Seite und wagen einen Blick über die Sanddünen: Kilometerweit zieht sich der breite Strand an der Ostsee entlang, bis er sich fast am Horizont verliert. 

Bis auf sechzig Meter Höhe reicht die Dünenlandschaft auf der malerischen Nehrung

Als wir ungefähr auf der Hälfte der Strecke erneut zur Haffseite wechseln, müssen wir schon eine ordentliche Anhöhe in der Mitte der Nehrung überwinden. Die Küstenlinie liegt hier einige Kilometer entfernt und wir kehren zum Mittag im mondän anmutenden Örtchen Judokranté mit Blick auf das Wasser ein. Meine Kette springt seit einigen Kilometern verstärkt über das Ritzel, vor allen Dingen unter Belastung, aber hier ist keine Hilfe zu finden. 

Kurz hinter Judokranté unmittelbar an der Straße führt ein kurzer Weg in die dicht stehenden Bäume. Eine Treppe führt zu einer Aussichtsplattform und wir sind absolut geplättet. In den abgestorbenen Bäume, über dem fast undurchdringlichen Buschwerk, haben sich tausende Kormorane und einige andere Vögel auf den hoch aufragenden, abgestorbenen Baumwipfeln nieder gelassen. Der Anblick und die Geräuschkulisse dieses einmaligen Naturschauspiels sind gigantisch.                 

Ab in die Wüste…

Erneut müssen wir die Nehrung queren und erhaschen von einem Aussichtspunkt einen ersten Blick auf die gewaltigen Wanderdünen im Süden. Als wir sie nach weiteren rund 15 Kilometern erreichen, entscheiden wir uns auf den langen Bohlenpfad hinauf die Räder mitzunehmen. Man wähnt sich mitten in der Wüste. Die Temperaturen und die Sonne tun ihres dazu. Die Zuwegungen der letzten Jahre liegen unter Sand begraben und lugen nur noch teilweise hervor. Die mächtigen über 50 Meter hohen Wanderdünen haben aber nicht nur etwas Holz sondern mittlerweile vier Ortschaften auf ihrer „Wanderschaft“ unter sich begraben. Oben angekommen eröffnet sich ein weiter Blick über die Halbinsel, die offene Ostsee, das Haff und die einige Kilometer entfernte Festlandsküste. 

One of my favourites: auf dem Gipfel der Wanderdüne per Rad kommt für mich alles was Radreisen ausmacht auf den Punkt.

Die Abfahrt auf dem rund einen Meter breiten Bohlenweg ist rasant und bringt Laune. Es ist wenig los und daher kommt uns niemand entgegen. Das ist wohl auch besser…
Wir fahren weiter Richtung Süden und erreichen die neu gegründeten Ortschaften Pervalka und Preila, deren Vorgänger unter Sand begraben liegen. Fast schwedisch muten die roten Holzhäuser an, die nahe am Haff stehen. Unmittelbar am Wasser geht es die letzten Kilometer bis nach Nida auf einem Radweg. Wir sehen schon von Weitem den Hafen der Grenzstadt zur russischen Exklave Kaliningrad. Zum Campingplatz müssen wir wieder über den Rücken der Nehrung und an Fahren ist mit dem Kettenschaden nicht mehr zu denken. Schieben ist angesagt, aber der Fahrradvermieter am Ort hat versprochen bis morgen Ersatz zu beschaffen.

Wir beziehen Quartier auf dem Campingplatz. Hier sind deutlich mehr Ausländer zu finden, als wir auf der ganzen Tour bislang wahrgenommen haben. Wir schlagen die Zelte auf und schlafen nach dem Essen beim Meeresrauschen der nahen Ostsee ein. Als es am Morgen übers Zeltdach rauscht, sind wir weniger selig – es hat erneut angefangen zu regnen. 

Hier geht’s zu Teil 3

Mit Meeresrauschen eingeschlafen und wieder aufgewacht: in Nida ist Das Meer zu beiden Seiten des Campingplatzes nur einige hundert Meter entfernt.