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Früher gab es hier Benzin

Die alte Avia Tankstelle in Oldenburg an der Ecke Kaiserstraße/Bleicherstraße ist ein Ort mit Geschichte und sie erzählt Geschichten. Hier gab es nicht nur Benzin, sondern auch „Kippen“, Getränke und Snacks. Unmittelbar im einstiegen Oldenburger Rotlichviertel gelegen, war das unscheinbare Gebäude mit dem prägnanten Dach Anlaufpunkt und Nahversorger. Hier tankte die Chefs des DGB ebenso wie die Rocker des nahegelegenen Motorrad-Clubs. Und für den Betreiber gab´s nach erfolgreicher Starthilfe auch schon mal nen „Gutschein für einen Blowjob“ von einer dankbaren Sexarbeiterin aus der Nachbarschaft. Die Mitglieder des Motorradclubs mieteten hier ihre Autos. Ohne Selbstbeteiligung, falls sie in eine Schiesserei kämen. Anwälte, Banker und Geschäftsführer tankten ihre Autos. Und manchmal wurde ein Vergleich auch am Montagmorgen über die Zapfsäulen hinweg vorbesprochen, noch bevor man sich im Gericht gegenüber stand.

Titelbild: Carola Bührmann

Der letzte Lude…

…war es nicht, mit dem ich gesprochen habe. Aber einer der letzten Tankstellenpächter. Horst)* hat bis vor gut zehn Jahren die Tankstelle in der Kaiserstraße selbstständig betrieben, Benzin verkauft, Autos vermietet und in der Waschanlage gewaschen. So richtig gerechnet, hat sich das auf Dauer nicht, dafür war die alte Tankstelle aus den 50er Jahren einfach zu klein. Und doch denkt er gerne an diese Zeit zurück. Als die Kaiserstraße und das ganze Oldenburger Bahnhofsviertel ein buchstäblich heißes Pflaster waren. In der Tankstelle seien sie alle irgendwann und irgendwie vorbei gekommen. Sei es zum Tanken oder Zigaretten kaufen, weil sie einen Mietwagen brauchten oder eine Kleinigkeit zu essen. „Die Tankstelle war der heimliche Mittelpunkt dort auf dem Präsentierteller auf der Ecke.“ erinnert sich Horst. In Richtung Kaiserstraße und Stau mit Erotikshop, Pornokino, Straßenstrich und DGB-Gebäude. Und in die andere mit der Barmer, dem besagten Motorrad-Club, der Kulturetage und dahinter der Staatsanwaltschaft. Im Quartier sind viele Verwaltungsgebäude, Gewerbe und Industrie haben hier ihren Ursprung. Manch einer hat vielleicht noch einen Umzugskarton von der Spedition Wollering auf dem Dachboden. Und auch die Firma Pickel war hier zu Hause und hat in der Gottorp- bzw. Rosenstraße ihren Anfang genommen.

2005 war die Tankstellenwelt an Kaiserstraße noch in Ordnung.

Avia und August Pickel

1955 wurde die Tankstelle mit dem schönen „Flugdach“ gebaut und firmierte bald unter der Marke AVIA. Firmengründer August Pickel setzte in den 50er Jahren auf Expansion seines Mineralölgeschäfts und schloss sich dem internationalen Verbund an. Neben dem Waschhallengebäude, gab es nur ein kleines Kassenhäuschen. Dort wo später vor allen Dingen die Autovermietung stattfand, im Verkaufsraum links wurden früher unter freiem Himmel Autos repariert. Auch im hohen Alter schaute der Firmengründer regelmäßig bei der Tankstelle in der Kaiserstraße vorbei, berichtet der ehemalige Pächter Horst. Und wenn die Farbe am Flugdach blätterte, war am nächsten Tag ein Maler da. Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Benzin wird hier schon seit 2018 nicht mehr gezapft, das Gebäude wurde verkauft und die Farbe blättert fleißig.
Im Moment funktioniert nicht einmal mehr das Tor zur ehemaligen Waschhalle. Doch die Kaiserstraße und das ganze Viertel erleben seit ein paar Jahren eine Art „Comeback“. Seit mehr oder weniger zehn Jahren ist das große Rotlicht Geschichte. Zusammen mit Handel, Verkehr, Gewerbe und vielem mehr ein Vermächtnis, auf dem sich neue Strukturen und ein lebenswertes Umfeld etablieren.

Langzeitstudierende und Überlebenskünstler

Horst assoziiert die meisten Kundinnen und Kunden mit ihren Autos. Die ewige Studentin mit dem Peugeot 205 Cabrio, dessen Dach schon oft notdürftig mit Klebeband geflickt wurde. Und die sich just am Prüfungstag unfreiwillig in der Wohnung einsperrte, so dass man die Tür eintreten musste um sie zu befreien. Bestanden hat sie trotzdem nicht. „Den VW T3-Pritsche von der Kulturetage sehe ich heute noch, der läuft immer noch,“ erzählt Horst. Dann die Familie eines Geschäftsführers, die alle BMW fuhren und auf die Karte des Mannes tankten. „Zwei Töchter mit Z4 und die Frau hat nie selbst getankt, sondern wartete immer bis sie bedient wurde.“ Der Zivi, der mit dem Seat Arosa immer ganz eilig zur Barmer musste um etwas einzuwerfen und den Weg mit quietschenden Reifen über das Tankstellengelände abkürzte. Bis ihn einmal einzufällig auf dem Boden liegendes Kantholz bremste und er fortan an dieser Ecke vorsichtig fuhr. Ob der Student, der mit seiner Zimmerantenne im Dachgeschoss die Übertragung des Pornokinos im Erdgeschoss angezapft hatte und mit regelmäßigen Filmabenden sein Salaire aufbesserte ein Auto fuhr, ist nicht überliefert. Aber der hatte bestimmt ein Fahrrad.

…irgendwas mit Fahrrädern

In Zukunft – oder zumindest in den kommenden Monaten – dreht sich in der alten Tankstelle alles rund ums Rad. Die Tankstelle wird zur Radstelle. Und weil mich die Geschichte des Quartiers und dieser Ecke mit der Tankstelle fasziniert, werde ich auch weiter forschen und hoffentlich im Laufe der Zeit noch einiges zu Tage fördern. Ich habe Kontakt zum Stadtmuseum und zur Firma Pickel aufgenommen und vielleicht entsteht daraus ja sogar mehr.

Museum findet Stadt

Das Oldenburger Stadtmuseum hat zu verschiedenen Orten und historischen Zusammenhängen Beiträge veröffentlicht. Dabei geht es auch um den Hafen, den Stau und die Kaiserstraße.

Kaisertstraße

Stau

  • )* den vollständigen und tatsächlichen Namen verwende ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Und bei den Geschichten und Hintergründen verlasse ich mich auf die Aussagen der mir bekannten Person, die ich in diesem anekdotischen Beitrag widergebe.