Auf dem letzten Abschnitt unserer Radreise erreichen wir Polen. Der dritte Staat nach Lettland und Litauen. Dabei haben wir die Nähe der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad auf weiten Strecken unmittelbar im Blick. Wir wagen den Grenzübertritt an ungewöhnlicher Stelle und riskieren einen kurzen Blick zurück in die Geschichte des Dreiländerecks zwischen Polen, Litauen und Russland, im ehemaligen deutschen Ostpreußen. Im Nordosten Polens kreuzen wir den Verlauf einer Tour durch die Republik, die ich vor einigen Jahren unternommen habe. Und so schließt sich für mich kurz vor der Rückfahrt mit dem Nachtexpress von Elk (Lyk) aus der Kreis: Damals stand ich auf der Hofstelle auf der mein Vater einst seine Kindheit verbrachte und beschloss auch das nahe Baltikum mit dem Rad zu besuchen. Im vierten Teil (hier findet ihr Teil 1, Teil 2 und Teil 3) erfahrt ihr von unserer ganz persönlichen „Grenzerfahrung“ und dem Abschluss eines fantastischen Einblicks ins Baltikums.
An der Grenze zum Baltikum
Wie schon zwei Tage zuvor folgt auf einen Tag mit heftigem Regen ein sonniger Morgen. Und im Tagesverlauf wird es dann richtig warm. Wir sind am Abend in Sakiai mit dem Bus angekommen und wollen, nachdem wir nach Osten ins Landesinnere Litauens vorgestoßen sind, weiter entlang der Grenze zu Russland nach Süden fahren. Deren Verlauf entspricht weitestgehend dem vor dem Krieg nur das jenseits der Grenze das damalige Ostpreußen lag. Die Grenze haben wir jederzeit im Blick. Immer wieder tauchen Wachtürme über den Hügeln im Westen auf. Ab und an ist auch ein Schlagbaum (litauisch Schlagbaumas – kein Witz) neben einem kleinen Haus zu sehen. Wir treffen auf eine Patrouille litauischer Grenzer, die schon am Morgen den Verkehr kontrollieren und Fahrzeuge durchsuchen. Uns interessiert, ob der Grenzübertritt unmittelbar im Dreiländereck zwischen Polen, Litauen und Russland möglich ist. Denn nur ein paar Kilometer entfernt befindet sich die Hofstelle, auf der mein Vater seine Kindheit verbracht hat und ich vor einigen Jahren den Beschluss gefasst habe, auch das Baltikum mit dem Rad zu bereisen. Außerdem würde der in der Karte eingezeichnete Grenzübergang einen Umweg von ca. 60 Kilometern bedeuten.
Vistytis per Rad
Wir radeln zunächst weiter im Grenzgebiet Richtung Süden. Die Landschaft verändert sich, wird deutlich abwechslungsreicher und hügeliger. Wir sind dabei uns ein paar „Höhenmeter“ zu erradeln. Bis auf eine Höhe von ganzen 300 Metern werden wir an diesem Tag kommen. Die Temperaturen sind deutlich gestiegen, so dass wir ordentlich ins Schwitzen kommen. In den kleinen Orten treffen wir freundliche Menschen. Einer älteren Frau auf dem Rad fliegt der Hut vom Kopf, ich halte an und reiche ihn ihr. Ob wir Litauer seien. Nein? Deutsche? Das sei auch gut…
Hier in Kybartai stehen wir durch den Verlauf der Straße fast unmittelbar vor einem russischen Grenzübergang, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt. Mit vielen Durchlaufsperren, Zäunen und Schildern, die das Fotografieren verbieten. Kybartai ist schon die größte Stadt, die wir an diesem Tag kennen lernen. Im Süden Litauens erreichen wir den Ort Vistytis. Prägnant ist der große See, südlich der eigentlichen Siedlung, der zu rund zwei Dritteln zu Russland gehört.
Wir kehren in den örtlichen Supermarkt ein und versorgen uns zum verspäteten Mittagessen. Sogar gezapftes Bier gibt es in dem kleinen Laden. Schnell kommen wir mit einigen jungen Männern ins Gespräch, Studenten wie sich zeigt, die die Zeit verbringen, bis ihre Urlaubsreise nach Schweden beginnt. Wie uns das Bier schmeckt, wollen sie aber zunächst wissen und was ein Bier in Deutschland kostet. Auch die Deutschkenntnisse der jungen Verkäuferinnen stellen wir auf die Probe. Was war noch mal Käse?
Grenzerfahrung mal anders
Im Ort finden wir eine detaillierte Landkarte der Umgebung. Die sagt uns genauso wie die jungen Leute, dass es tatsächlich keine Straße, keinen Weg über die Grenze gibt. Auf beiden Seiten – in Litauen und in Polen – endet die ursprüngliche Verbindungsstraße. Wir haben schon nahezu hundert Kilometer auf dem Tacho und den Umweg wollen wir eigentlich nicht in Kauf nehmen. So fahren wir trotz Allem den Berg zur Grenze hinauf – bis auf besagte 300 Meter. Eine breite Schotterpiste mit erheblicher Steigung. Ein Gewitter zieht heran und als wir oben ankommen, umfängt uns eine fast mystische Stimmung unterhalb der tief hängenden Wolken. Eine Frau melkt ihre Kuh auf dem Feld und ein Mann ist mit seinem Kind im Motorradbeiwagen zu den Pferden gefahren. Wir radeln weiter…
Wir erreichen ein Gebäude, vielleicht eine alte Grenzstation und von da über einen Sandweg ein offenes Tor in einem zwei Meter hohen Zaun. Es beginnt zu regnen. Jenseits des Tores führt rechts und links ein Weg am Zaun entlang. Rechts runter geht es nach Russland, vielleicht fünf Kilometer? Links geht es an der litauischen Grenze zu Polen entlang. Geradeaus führt ein schmaler überwucherter Pfad in den Wald. Der GPS-Empfänger zeigt an, dass wir uns weniger als einen Kilometer vor der Grenze befinden. Wir radeln geradeaus in den Wald. Zunächst geht das noch. Dann löst sich die Piste in Fahrspuren eines Fahrzeugs auf. Schieben ist angesagt. Große Pfützen stehen in den Senken des aufgefahrenen Weges. Das Gewitter entlädt sich über uns und es regnet jetzt heftig. Letzten Endes waten wir mit den voll bepackten Rädern durch hohes Gras – ein Weg ist nicht mehr erkennbar. Mulmig ist uns doch, als wir aus dem Wald heraus treten und die Räder einen Damm hinaufschieben. Es hat aufgehört zu regnen und wir stehen mitten auf dem Grenzstreifen. Eine Fahrbahn und etwas höher ein fünf Meter breiter aufgepflügter Streifen. Keine Schilder – auch nicht, dass man keine Fotos machen soll, aber danach ist uns sowieso nicht. Schnell hieven wir die Räder auf den gepflügten Streifen und betreten auf der anderen Seite Polen. Wir kommen hinter einem Wäldchen hervor und von hinten an die Scheune eines Bauernhauses heran.
Der Kreis schließt sich
Natürlich schaut der Bauer aus der offenen Hintertür. Sein Blick spricht Bände: Doch ein paar Brocken polnisch und die Frage nach dem Ort Zytkiejmy in der Nähe wirken beruhigend. Er klärt uns auf, dass wir zunächst Wizajny erreichen. Wir verabschieden uns und folgen der Zufahrt zum Hof. Es muss sich, wie ich später alten Karten entnehme, tatsächlich um die ursprüngliche Verbindungsstraße handeln. Von den Höfen und vom Feld grüßen uns die Anlieger mit verwunderten Blicken. Aus dieser Richtung kommt wohl sonst niemand.
Auf den letzten Kilometern zum ehemaligen Hof meiner Familie schließt sich der Kreis. Ich bin richtig euphorisch und das hält auch an, als es wieder heftig zu regnen beginnt. Wir schauen nur kurz auf dem Hof vorbei, wo heute eine polnische Familie neu gebaut hat. Auf der alten, still gelegten Bahnlinie fahren wir weiter in Richtung Stancziky – zur Staatshauser Eisenbahnbücke – wo wir in einem Hotel Quartier beziehen.
Zurück per Nachtexpress
Am nächsten Morgen starten wir früh. Der Himmel ist bedeckt. Wir haben einige Kilometer vor uns bis nach Elk (Lyk), wo wir am Abend unseren Nachtzug erreichen wollen. Im Verlaufe des Tages regnet es ausgiebig und es ist kühl. Wir „fressen“ Kilometer auf der Bundesstraße, bis wir letztlich triefnass unseren Zielort erreichen. Es ist vollbracht! Wir kaufen uns neue, trockene Schuhe und Socken und ziehen uns in der „Boutique“ im Bahnhof um. Die Besitzerin schmunzelt freundlich. Die bepackten Räder tropfen in der Bahnhofshalle vor sich hin. Wir sind glücklich.
Der Nachtexpress mit Schlafwagen fährt von Elk bis nach Schwerin. Wir schlafen hervorragend in dem plüschigen Ambiente. Dann steigen wir am frühen Morgen in einen deutschen Zug nach Hannover um und fahren über Bremen nach Hause. Gegen Mittag bepacken wir unsere Räder für die „letzte Etappe“ vom Bahnhof nach Hause. Rund 650 Kilometer liegen hinter uns. Abwechslungsreich und – darüber sind wir uns einig – ein absoluter Luxus, denn wir sind gesund, haben Zeit und Geld diese Reise zu unternehmen. Die Wahrnehmung verschiebt sich, wenn man ins Baltikum reist. Ich brauche einige Tage, um bei uns im „Westen“ anzukommen und freue mich unsere europäischen Nachbarn endlich besucht und kennen gelernt zu haben. Fest steht: Wir kommen wieder.