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Radreisen

Radreise durch Polens Norden V

Selbst eine Zeitreise im doppelten Sinne geht irgendwann zu Ende: ich habe ein Radreisebericht von 2003 neu aufgelegt, der schon damals eine Art Zeitreise für mich war. (Teil IV gibt´s hier)

Schneller als erwartet habe ich die Strecke quer durch den Norden Polens hinter mir gelassen. Wie so oft, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, habe ich dabei mehr Kilometer zurück gelegt als zunächst erwartet. Meine letzten Etappen auf dieser achttägigen Reise führen mich unter anderem in die Stadt Kolobrzeg (Kolberg) und dann von der Küste ins Binnenland, in die Oderniederung und schließlich nach Szczecin, dem Ziel der Tour. Nach 986 Kilometern erreiche ich die westliche Grenze der Republik, nachdem ich nur wenige Tage zuvor in der Nähe der Ostgrenze gestartet war. Während ich an diesem Abend auf den Bus warte und auch während der Fahrt zurück nach Bremen, frage ich mich, was von acht Tagen Polen bleibt? 

Kolobrzeg 

Der Gollenberg hat mir schmerzende Knie eingebracht. Und obwohl Koszalin wichtigstes regionales Zentrum in der ansonsten ländlich geprägten Umgebung ist, gibt es bei der Durchfahrt wenig Sehenswertes. Hinzu kommt, dass die Universitätsstadt auch eine wichtige Verkehrsdrehscheibe darstellt. Aus allen vier Himmelsrichtungen führen vier- oder sechsspurige Straßen ins Zentrum. Das macht die An- und Abfahrt mit dem Rad nicht gerade attraktiv und so ist auch der Weg zurück ans Wasser alles andere als schön. Erst in dem kleinen Küstenbadeort Ustronie Morskie erreiche ich die liebenswerte Küste wieder. Auch dieser Ort ist, trotz der Vorsaison, schon gut besucht. Das Dorschfilet ist hervorragend und die Unterhaltung mit einem jungen Polen, der im Fahrradverleih nebenan arbeitet, ist es auch.

Kolobrzeg hat mich mit seinem Flair schnell in den Bann gezogen. Auf frisch asphaltierten Strecken geht es von dort Richtung Szczecin

Ist sind nur noch wenige Kilometer nach Kolobrzeg (Kolberg). Ich erreiche die Stadt am späten Nachmittag. Die wechselhafte Geschichte ist allerorten ablesbar. Und wie in kaum einer anderer Stadt, die ich auf meiner Reise gesehen habe, treffen neue Elemente, Aufschwung und Wohlstand auf veraltete Bausubstanz, historische Bauten und die Nachwehen aus den vergangenen Jahrzehnten. Die Fahrt durch die Stadt eröffnet an vielen Stellen immer neue Perspektiven. Hier steht ein aufwendig restauriertes Nobelhotel, der Blick über die Schulter erfasst das historische Bahnhofsgebäude. Eine anspruchsvoll gestaltete Karte am Rand eine Parks zeigt den Weg zur Promenade. Auf dem Weg dorthin kommt mir eine Polizeistreife auf dem Rad entgegen. Noch gerade rechtzeitig habe ich die Kamera parat. Die Promenade wird gerade neu gestaltet und wird wohl in wenigen Tagen fertig sein. Ins Meer hinaus reicht eine lange Mole, von der aus man einen tollen Blick entlang der Küste nach Osten hat. Auf der anderen Seite warten Hafen und Leuchtturm auf Besucher. Die Stadt zieht mich unmerklich in ihren Bann. Die abendliche Lektüre im Reiseführer bestärkt meinen Eindruck, wobei ich mich wundere, dass man die Geschichte einer Stadt so intensiv erleben kann…

Von der Küste in die Oderniederung

Ich verlasse mein Quartier am Ortsrand Kolobrzegs in Richtung Süden. Mein Ziel ist Trzebiatów und von dort die E 28 für die lange Anfahrt auf Szczecin. Schon früh an diesem Morgen merke ich, dass irgend etwas anders ist als sonst. Die ersten Versuche an diesem Donnerstag etwas zum Frühstück zu kaufen schlagen fehl. Die Straßen sind wie leergefegt. Mancherorts sehe ich Menschen in festlicher Kleidung, was an für sich nichts ungewöhnliches ist. Bereits in den letzten Tagen haben die Schüler wohl ihren Schulabschluss gemacht: Immer wieder habe ich sie in Gruppen und insbesondere an Schulen gesehen. Aber irgendwie ist das heute noch anders…

In Trzebiatów finde ich dann endlich einen kleinen Laden der geöffnet hat. An der Ortsausfahrt ist eine Kaserne. Die Tore sind weit geöffnet, viele Stadtbewohner strömen hinein, der Wachhabende grüßt freundlich. Nun, denke ich als ich zurück grüße, ich werde schon dahinter kommen, was es damit auf sich hat. 

Im Grunde sehe ich gegen die lange Etappe auf der E 28 an. Die Strecke zwischen Elblag und Gdansk war auch eine Europastraße. Wie zur Bestätigung meiner bösen Vorahnung fängt es auch jetzt wieder an zu regnen. Als ich dann endlich auf die Hauptstraße einbiege, bin ich erstaunt. Es handelt sich nicht um eine „Autobahn“. Vielmehr ist kaum ein Unterschied zu den üblichen Durchgangsstraßen erkennbar. Hinzu kommt, dass nicht nur keine Menschen auf den Straßen sind, sondern auch keine Autos und schon gar keine LKW´s. So erreiche ich einen um den anderen Ort. Als ich die erste Prozession durch ein Dörfchen ziehen sehe, ist auch mir klar, dass wohl heute ein Feiertag ist. Ein katholischer. An jedem Ort den ich so erreiche, ist das Fest schon ein bisschen weiter fortgeschritten, bis ich am Nachmittag nur noch die Reste der Züge auf den Straßen vorfinde. 

Irgendwo ist mit der Ausschilderung nach Szczecin Schluss, wenn man nicht auf die Autobahn fahren will. Ich will nicht und deshalb folge ich etwas mühsam den wenigen verbleibenden Hinweisen. Es sind noch fast 30 Kilometer in die Oder-Stadt, aber auch hier ist deutlich zu merken, wie sich alles auf das Zentrum konzentriert. Auf diesen letzten Kilometern begegne ich kaum noch jemandem. Der Weg führt durch die Oderniederung mit hohen Kiefernwäldern und neu asphaltierten Straßen. Irgendwo ist eine Lichtung in den Wald geschlagen worden – ein Neubaugebiet, wohl in annehmbarer Entfernung für Pendler. Es dauert noch einige Kilometer bis sich die Bebauung merklich verdichtet. Tatsächlich sehe ich die Zinnen der historischen Altstadt über Wiesen und Wälder hinweg.

Polen ist 2003 voller Kontraste. Und schon weit vor dem Erreichen von Szczecin merkt man den Einfluss einer weiteren „A-Polen“ Stadt

Szczecin sehen und fahren

Fast auf die Minute genau erreiche ich am Abend die Stadtgrenze von Szczecin, acht Tage nachdem ich die von Suwalki hinter mir gelassen habe. Insgesamt habe ich fast 1.000 Kilometer abgeradelt, viel mehr als ich ursprünglich ermittelt hatte. Meine Schätzung von 750- 800 Kilometern dürfte nicht nur aufgrund kleinerer Umwege, sondern vielmehr aufgrund der Streckenführung von Nebenstraßen überschritten worden sein. Mit dem Rad folgt man in der Regel nicht der direkten Verbindung zwischen zwei Orten.

Mit der Stadtgrenze aber, habe ich noch nicht das Zentrum erreicht. Das erweist sich auch in dieser Metropole als ungleich schwerer. Inzwischen schüttet es wieder wie aus Kübeln, die Anfahrt erinnert, im übrigen nicht nur deswegen, an die auf Gdansk: Der Verkehr ist hier deutlich stärker als im Verlauf des Tages. Die Straßen mehrspurig, unübersichtlich, insbesondere für Radler. Mit einer guten Portion Selbstbewußtsein und Abenteuerlust schwimme ich im automobilen Strom mit. Baustellen verhindern die Weiterfahrt auf dem neu angelegten Radweg. Aber der Gipfel ist die Überfahrt über die Oder: Der Radweg führt nicht in drei Richtungen wie die Hauptstraße, sondern nur in eine – parallel zum Fluß soll es eine lange Treppe hinuntergehen. Gott sei dank fehlt ein Stück Leitplanke…

Fronleichnam: Szczecin ist wie ausgestorben

Wieder bucklige Pisten, wieder mehr Scherben als Straßenbelag – aber ich bin am Ziel. Die Altstadt liegt vor mir! Aber auch Szczecin ist wie ausgestorben – eine Geisterstadt. An einem Kiosk erfahre ich das heute Fronleichnam ist. Erst gegen Abend sind wenige Menschen mehr auf der Straße. Ich habe noch bis viertel vor elf Zeit, dann erst fährt mein Bus vom Hauptbahnhof ab. Ich nutze die Zeit und schlendere durch die Stadt. Der Regen hat aufgehört. In der Nähe eines Kinos herrscht reges Treiben in einem Biergarten. Ich investiere meine letzten Zloty in Kaffee, beobachte die Menschen und fange an zu schreiben. Aus den Boxen schallt ein „Westsender“:

Acht Tage Polen, was bleibt? Vor allen Dingen viel Natur, herrliche Landschaften, Düfte und Tiere auch welche, die ich vorher gar nicht kannte. Und viele freundliche Menschen. Menschen, die auf einen zugehen und mit einem sprechen, auch wenn man kein Polnisch versteht. Und solche die Deutsch oder Englisch können. Viele liebe Wünsche versteht man aber auch unabhängig davon. Und die Angst vor dem fremden Land, vor Vorurteilen und Neid? Egal ob A-Polen oder B-Polen nirgendwo habe ich Abneigung erfahren – ganz im Gegenteil. Vielleicht auch deswegen, so denk´ ich manchmal, weil ich auf dem Rad viel näher dran bin.(…)“

Eine Reise nach Polen und dann auch noch mit dem Rad

„Armer Mann, armer Mann…!“ kommentiert die junge Polin am Busbahnhof in Bremen meine Pläne, mit dem Rad durch Polen zu reisen. Von Ungläubigkeit bis Mitleid reichen die Reaktionen auch an anderer Stelle – nicht nur wegen des Radfahrens. Allen Zweifeln, auch meinen eigenen zum Trotz ist Polen ein ausgesprochenes Reiseland. Und aus verschiedenen Gründen insbesondere für Radfahrer interessant.

Eine spezielle Infrastruktur für Radler fíndet man in Polen nicht. Die wenigen Radwege verdienen den Namen meistens nicht. Neu gebaute Abschnitte sind nicht länger als eine paar hundert Meter und äußerst selten (aber dafür verpflichtend zu benutzen). Der Verkehr ist weniger stark als in Westeruopa. Radler erfahren in Polen deutlich mehr Rücksicht als Autofahrer – insbesondere von LKW-Fahrern. Viele Polen nutzen das Rad für alltägliche Wege – oft handelt es sich dabei um klapprige Gefährte, dass ist aber bei allen anderen technischen Geräten auch keine Seltenheit. Man fühlt sich daher keineswegs allein, wenn man auf dem Rad unterwegs ist. Rikschafahrer in Danzig, Polizeistreifen auf dem Rad und dreirädrige Verkaufsstände zeigen darüber hinaus, welchen Stellenwert das Fahrrad einnimmt. Außerdem trifft man auch in abgelegenen Gebieten auf zahlreiche Radtouristen und Radreisegruppen (ausländische und polnische). Es gibt auch Radroutenbeschilderungen, die man aber nicht ohne weiteres immer versteht. Optimal für Radtouristen ist die klein gegliederte Struktur in Polen: In jedem Dorf gibt es einen „Sklep“ – einen kleinen Einzelhandel (Tante-Emma Laden), so dass man keine Hamstereinkäufe machen muss und fast überall, zumindest im Norden Polens gibt es in großer Anzahl und ausreichender Dichte „Wolne Pokoje“ – Fremdenzimmer!

Typisch für Polen: ein kleiner Dorfladen, ein Sklep, in dem es alles gibt, was man so braucht