Eine Reise durch die Zeit: ich bin nach Polen gereist. 15 Jahre ist das schon her, dass ich mich auf die Spuren der Vergangenheit begeben habe. Eine Radreise durch den Norden Polens auf historischen Spuren.
(hier findet ihr Teil II)
Auf den kommenden Etappen meiner Radtour scheinen Vergangenheit und Gegenwart in friedlicher Harmonie nebeneinander bestehen zu können. Wo in Europa hat die Geschichte so viele tiefe Spuren hinterlassen wie hier in Polen? Innerhalb weniger Kilometer durchreise ich Jahrzehnte, kurz darauf Jahrhunderte. Aber auch das Leben der Menschen ist spürbar geprägt von der Koexistenz eigentlich längst Vergangenen und den Errungenschaften der Neuzeit. Ein Pferdewagen holpert über die mit Kopfstein gepflasterten Straßen nach Ketrzyn und die Mobilfunktürme stehen in Sichtweite voneinander entfernt….
Von Ketrzyn nach Braniewo
Westlich des Mamry-Sees heißt das nächste Ziel Ketrzyn (Rastenburg). Auf dem Weg dorthin weisen deutschsprachige Schilder auf groben Holzbrettern den Weg zu verborgenen Bunkern. Ganz in der Nähe befindet sich auch die „Wolfsschanze“. Die überdimensionale Bunkerstadt, einst Führerhauptquartier, die auf über 1000 Hektar binnen kürzester Zeit aus dem Boden des Rastenburger Staatsforstes gestampft wurde, ist noch heute Anlaufpunkt, um sich mit der jüngsten Geschichte auseinander zu setzen. Ihre Zerstörung hat definitiv nicht halb soviel Erfolg gehabt wie der Bau. Ich schlage die holzbewehrte Einladung zu diesem Abstecher in die Kriegsgeschichte aus und treffe auf meinem Weg nach Ketrzyn auf eine Gruppe junger Radler. Zwei schrauben an einem der Räder herum. Es handelt sich um jugendliche Polen, die wie ich später feststelle, zu einer größeren Reisegruppe gehören. Mit einem Speichenschlüssel kann ich das Hinterrad zentrieren, dessen hemmende Wirkung die beiden Schrauber mit dem Nachstellen der Bremse beheben wollten. Die Kommunikation ist kein Problem: Die Jungs sprechen englisch.
Auf den letzten Kilometern nach Ketrzyn werde ich eines der wenigen Male auf dieser Tour vom Kopfsteinpflaster durchgerüttelt. Die Stadt ist schon von Weitem zu sehen und es wird klar: Das bucklige Masuren ist hier nur noch eher eine wellige Ebene. Der Blick öffnet sich über 20 vielleicht 25 oder mehr Klometer. Der Wind hat gedreht und kommt weniger scharf als in den vergangenen Tagen aus Richtung Nordwest. Die beschauliche Stadt lädt zur Pause ein…
Danach wird es Zeit noch weiter in die Vergangenheit einzutauchen. Nur wenige Kilometer südwestlich komme ich zur Wallfahrtskirche Swieta Lipka (Heilige Linde). Der Sakralbau aus dem 17. Jahrhundert ist Anlaufpunkt von jährlich mehr als 30.000 Gläubigen und natürlich zahlreichen Touristen! Auch heute schlängle ich mich mit meinem Rad zwischen Reisebussen hindurch und fahre weiter nach Reszel (Rößel). Hier befindet sich ein weiterer Zeitzeuge, die zwischen 1321 und 1371 erbaute Bischofsburg. Und weil der Krieg die kleine Stadt fast schadlos lies, steht diese immer noch im Einklang mit der historischen Altstadt da.
Es folgen kleinere Orte von denen vor allen Dingen Bisztynek ins Auge fällt – der kleine Ort ist quasi umringt von drei Mobilfunktürmen. Die Menschen genießen den Samstagnachmittag. Im Ort ein Sommerfest in einem Kindergarten. Ein Blick in die teils liebevoll gestalteten Gärten offenbart so etwas wie aufkeimenden Wohlstand. Tatsächlich profitiert die Region von der ansässigen Industrie, obwohl davon im Landschaftsbild kaum etwas zu sehen ist. Nach fast 140 Kilometern erreiche ich mein Tagesziel Lidzbark Warminski (Heilsberg). Auch hier dominieren größere Kirchenbauten aus der Ordensritterzeit das Stadtbild. Die Unterstützung bei der Suche nach dem örtlichen Campingplatz erfolgt auf polnisch, englisch oder gar auf deutsch: Eine ältere Dame hat die Sprache noch von ihrer Mutter gelernt. Die Familie war nach dem Krieg geblieben.
Der Campingplatz liegt etwas außerhalb der Stadt und erweist sich als „Loch“ – gerade wieder eröffnet wäre ich der einzige Kunde auf dem nicht nur dank der kalten Monate heruntergekommenen Platz. Schließlich finde ich ein ansprechendes kleines Hotel in der Innenstadt, das nach einigen Verhandlungen mit den jungen Wirten auch für mich erschwinglich ist. Mein Fahrrad parkt in der Garage während ich bei Bier und Nüssen das Erlebte niederschreibe.
Am nächsten Tag mache ich mich auf nach Braniewo. Effektiv bedeutet das einen kleinen Umweg, ich liege aber gut im Rennen und gönne mir daher nicht nur das Frische Haff sondern auch das erste Highlight an diesem Tag: Die alte Reichsautobahn nach Königsberg. Einige Kilometer vor Braniewo erhebt sich die Landstraße um dieses Relikt des „1000-jährigen Reiches“ zu überwinden. Heute nicht mehr als eine Verbindungsstrecke zwischen kleineren Orten, ist pro Fahrtrichtung nur noch eine Spur nicht vom Grün überwuchert. Während ich auf der Brücke stehe, wandeln drei Radler unter mir auf historischen Wegen – ich winke den Zeitreisenden zu…
Die letzten Kilometer nach Braniewo führen über eine breiten, neu asphaltierten Streckenabschnitt. Die Stadt selbst zeigt sich an diesem Sonntag von ihrer schönsten Seite: Unterhalb der Durchgangsstraße hat ein Biergarten seine Pforten geöffnet. Auch hier kurz vor der Grenze zu Russland herrscht an diesem Sonntag reges Treiben – vor allen Dingen Familien mit Kindern nutzen das schöne Wetter.
Frisches Haff und Elblag
Überhaupt scheint es hier viele Familien zu geben und alle zieht es auf´s Land. Vor allen Dingen heute habe ich sogar am Feldesrand Kleinfamilien in einfachen Lauben gesehen. Kurz nach 11:00 Uhr überholt mich an einer Steigung ein Pole mit dem Rad und redet unverdrossen auf mich ein – obwohl ich ihm erkläre, dass ich kein polnisch spreche. Erstaunlicherweise verstehe ich dennoch sehr viel. Er schimpft über die mangelnde Qualität seines Rades (auch im Vergleich zu meinem) und sonst auch noch Einiges beklagenswertes, diskutiert meine Fahrtroute und lädt mich zuguterletzt, mit Hinweis auf die gerade gekauften Biere in seiner Plastiktüte am Lenker, zu sich nach Hause ein. Ich aber will weiter – nur wenige Kilometer hinter Braniewo gelange ich nach Frombork (Frauenburg), wo schon Nikolaus Kopernikus seine astronomischen Studien betrieb und von dort zum Frischen Haff. Zunächst kann man das Frische Haff von der Hauptstraße, nun in Richtung Südwest, nur sehen: Diesen Abschnitt der Ostsee, der von der langgezogenen Landzunge, der Frischen Nehrung vom offenen Meer getrennt wird. Nur auf der Höhe von Kalinigrad und damit außerhalb der polnischen Hoheit, gibt es eine Öffnung zur Ostsee. Die Landschaft ist herrlich, mit fast italienischem Flair! Mit knackigen Anstiegen und rasanten Gefällestrecken geht es zum ersten Küstenort Tolkmicko. Und der ist schauderhaft! Vielleicht habe ich mir von der Küste zuviel versprochen, aber hier ist es wirklich herunter gekommen.
Einige Kilometer weiter jedoch werden meine Hoffnungen erneut genährt. Rund um Kadyny hat sich traditionell wieder die Pferdezucht etabliert. Über den Hof des restaurierten Gestüts, das mittlerweile auch ein sehenswertes Hotel beherbergt, führt sogar der Europaradweg R1 (!). Die Fährte dieses ersten Fernradweges quer durch Europa von Frankreich über die Beneluxstaaten, Deutschland und Polen bis nach Litauen, Lettland und Estland habe ich fast unmerklich aufgenommen und werde sie auch am nächsten Tag schon wieder verlassen – ein Hauch von Zukunft.
Hinter Kadyny mit seiner Erscheinung des frühen 20. Jahrhunderts, säumen dann viele Ferienhäuser und –hütten die Straße. Für mich bieten sich keine Möglichkeiten zur nächtlichen Einkehr, die Strecke entfernt sich von der Küste und wird eintönig. Ich entscheide mich doch noch bis nach Elblag (Elbing) durchzufahren. Die Straße erweist sich als Hauptzubringer aus Richtung Norden. Nachdem ich den Industriegürtel der 130.000 Einwohner-Stadt hinter mir gelassen habe, finde ich ein „billiges“ aber keineswegs preiswertes Hotel am Stadtrand. Zu allem Überfluss, habe ich nach der Zahlung des Zimmers nun auch keine Zlotys mehr. Etwas ernüchtert lege ich mich daher auf´s Ohr.
Entlang der Küste nach Gdansk
Elblag, einst stolzes Handels- und Industriezentrum mit Tabakindustrie und Lokomotivbau und nach Königsberg zweitgrößte Stadt Ostpreußens, konnte nach dem Krieg nicht an diese Tradition anknüpfen. Der Aufbau des historischen Zentrums, der z.B. Gdansk bis heute den Zustrom der Touristen sichert, begann in Elblag erst in den achtziger Jahren und er dauert bis heute an.
So ist der Anschein den die Stadt vermittelt, als ich mich an diesem trüben Morgen wieder aufmache eine Bank zu finden eher „lückenhaft“ – da wo Gebäude stehen sollten, befinden sich oft nur Fundamente. Auf dem Weg aus der Stadt habe ich meinen ersten Plattfuß auf dieser Tour. Dann beginnt es auch noch zu regnen. Die Straße, die ich mir für die ersten zwanzig Kilometer in Richtung Gdansk ausgesucht habe, hat den Ausbaustandard einer Autobahn! Der zunehmende Regen wird mir von den vorbeifahrenden LKW´s zusätzlich um die Ohren geschleudert. Erst als ich in Richtung Norden von der Hauptverkehrsstraße abbiege, fängt sich das Wetter wieder.
Ich gelange an die Ostseeküste und hier an eine Reihe von gut besuchten Küstenbadeorten. Dazwischen immer wieder sehenswerte alte Holzhäuser, bis ich die Weichsel erreiche, die hier, nur wenige Kilometer vom offenen Meer entfernt, nur mit der Schleppfähre zu überqueren ist.
Von hier beginnt die lange Anfahrt auf die Trojmiasto – die Dreistadt bestehend aus Gdasnk (Danzig), Sopot (Zoppot) und Gdynia (Gdingen). Alles scheint sich auf dieses Zentrum auszurichten. Schon lange vorher wird die Straße wieder eintönig, Industriegebiete kündigen die Metropole schon Dutzende von Kilometern vorher an. Hinter einer Schwimm-Pontonbrücke fängt es wieder an zu regnen, schlimmer noch als am frühen Vormittag und irgendwo schwenke ich wieder auf die autobahngleiche Schnellstrasse ein… Die Anfahrt ist grausig und der Tag soll nicht besser werden, aber er wird belohnt – durch eine, nein drei unglaubliche Städte…
Fortsetzung folgt! (Teil IV gibt´s hier…)