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Radreisen

Radreise durch Polens Norden II

Ich reise mit Euch durch die Zeit: 15 Jahre liegt meine Radreise durch den Norden Polens zurück und noch einmal 10 Jahre davor, war ich zum ersten Mal in der Heimat meiner Vorfahren. Hier kommt Teil II meines Berichts…
(Teil I gibt´s hier…)

Nach der Anfahrt und der ersten Nacht in Polen, ist es Zeit für den ersten Teil der Zeitreise: Vergangenheit. In Polen sind Zeitreisen per Velo auch möglich, weil an verschiedenen Orten die Zeit einfach stehen geblieben ist. Statt moderner Technik kommt z.B. überwiegend das Pferd vor dem Wagen, dem Pflug oder anderen Geräten, als einzige Unterstützung bei der landwirtschaftlichen Arbeit zum Einsatz. Und auch sonst erscheint das Leben vieler Polen kaum anders als vor vielen Jahrzehnten. In den größeren Städten ist davon aber kaum noch etwas zu merken. Hier bedeutet die Reise durch die Zeit, das spannungsvolle nebeneinander von historischen und modernen Elementen zu beobachten. Dieser Teil des Radreiseberichts durch den Norden Polens beschreibt den Weg aus dem äußersten Nordosten Polens über Goldap zum Mamry-See. 

Sanft hügelige Landschaft und die erste lange Tour seit mehr als 10 Jahren: im Nordosten Polens, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

In die Vergangenheit

Nicht nur durch die unverfälschte Natur ist insbesondere der Norden Polens so ursprünglich wie vor 100 Jahren. Ausgedehnte Kiefernwälder, Moor und Seenlandschaften laden zu ausgedehnten Erlebnistouren ein. Dieser Teil Polens gehört zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Republik. Die Einwohner betreiben zum größten Teil Landwirtschaft. Und auch das überwiegend wie vor hundert Jahren. Das Pferd ist oft die einzige Unterstützung bei der harten Arbeit auf den abschüssigen, weitläufigen Feldern. Das Idyll wird perfekt, wenn mittendrin auch noch ein Storch auf der Wiese sein Fressen sucht. 

Am nächsten Morgen mache ich mich auf zu meiner ganz persönlichen Reise in die Vergangenheit. Nördlich von Suwalki befindet sich das Geburtshaus meines Vaters. Bis Mitte der neunziger hat es die Jahre überdauert – als einziges Haus eines kleinen Dorfes Namens Kühlberg –heute Lysogora. Übersetzt heißt das soviel wie „Kahlberg“, wobei es sich wahrscheinlich schlicht um einen „Übersetzungsfehler“ handelt. 

Auf dem Weg dorthin tauche ich ein in eine ganz eigene Welt. Hinter jedem Zaun kläfft mindestens ein Hund – an den wenigen Bushaltestellen sammeln sich einige Leute, junge wie alte und beäugen mich ungläubig. Mein polnischer Gruß, den ich in den kommenden Tagen jeweils mehrere dutzend Male grüße, wird hier nicht immer erwidert. Nach einigen Kilometern überquere ich die ehemalige deutsch-polnische Grenze. Auch nach so vielen Jahren ist ein deutlicher Unterschied spürbar. Ich weiß nicht was es ist, Straßen, Schilder – irgendwie ist es hier aufgeräumter? 

Der Weg nach Zytkiejmy, dem nächst größeren Ort westlich von Kühlberg, führt über eine mit hohen Kiefern bewaldete Anhöhe. Meine Beine haben dem noch nichts entgegen zu setzen und es ist klar: Um nach Goldap zu kommen, muss ich hier auch wieder zurück. 

In Zytkiejmy geht es rechts ab – links herum ist direkt hinter dem Ortsausgang die Russische Grenze zur Enklave rund um Kaliningrad (Königsberg). Es ist noch nicht 9:00 Uhr und schon Einiges los. Auf dem Markt verkaufen fliegende Händler aus Lieferwagen Schuhe und Oberbekleidung, die Leute grüßen freundlich und schicken gute Wünsche mit auf den Weg, die ich leider nicht verstehe. 

Kurz hinter dem Ort soll sich abseits der Straße auf einem Hügel das Gehöft befinden. Ich bin gespannt was ich noch finde. Hier müßte es sein, aber ich bin mir nicht sicher – auf dem Hügel aber steht nur ein Haus – nicht drei Gebäude. Dann ist klar: Das Gehöft steht nicht mehr! Dort wo es stand wird neu gebaut.

Da wo einst das Geburtshaus meines Vaters auf einem Hügel mit zwei weiteren Wirtschaftsgebäuden stand, wird 2003 neu gebaut. In Holzbauweise mit weitem Blick über Hügel und Felder.

Die erste Enttäuschung macht einem anderen Gefühl Platz: Hier tut sich was! Und tatsächlich hat sich hier jemand seinen Traum erfüllt. Als ich oben ankomme, komme ich schnell mit dem neuen Besitzer ins Gespräch – auf englisch. Der Aussteiger aus Warschau will in dieser ursprünglichen Natur Landwirtschaft betreiben. In dem neuen großen Holzhaus sollen neben der eigenen Wohnung auch zwei Ferienwohnungen Platz finden. Die alten Gebäude sollen wieder aufgebaut werden. 

„Rails to trails“ pu polsku

Auf der alten Bahnstrecke, lässt es sich heute hervorragend Rad fahren. Die Ausschilderung ist pragmatisch.

Das Gefühl hat mich nicht getäuscht. Bei unserem intensiven Gespräch im Wohnwagen mit Vorzelt, der als Übergangsbehausung dient, wird deutlich: Auch hier am äußersten Ende Polens tut sich was. Die Menschen haben Mut gefasst. Ganz anders als ich es vor zehn Jahren kennen gelernt habe. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die nahe gelegene alte Bahntrasse, die von der Anhöhe aus zu sehen ist. Die Schienen wurden schon kurz nach dem Krieg demontiert und nach Russland gebracht wurden. Hier, so berichtet mir der Häuslebauer, soll ein Radwanderweg entstehen, der mit sachten Anstiegen und wenig Höhenunterschieden durch die weitgehend unberührte Natur führt. Nach einem Kaffee und einem Bier (mit einem Schmunzeln sagt mein Gegenüber: „Wir sind in Polen…“) mache ich mich auf, diesen Weg zu erkunden. Mit der Gewissheit, dass ich wieder komme.

Der provisorische Radwanderweg führt über Schotter entlang einer historischen Bahnlinie. In einer weiten Schleife umrundet er die Anhöhe, die mir bei der Anfahrt soviel Mühe gemacht hat. Auf halber Strecke liegt der Bahnhof „Zollteich“, der wohl einzig und allein dazu diente, das ehemalige und zukünftige Naherholungsgebiet rund um den besagten See zu erschließen. Viele marode Holz- und Steinbrücken kreuzen die Bahntrasse. Wie im Dornröschenschlaf träumt sich die vorzeitliche Infrastruktur durch die heute wie gestern ansonsten unberührte Landschaft, bevor sich gewaltig und unumstößlich die Staatshauser Brücke über dem Tal in Richtung Goldap erhebt. Sie ist der eindeutige Beweis, dass man soeben nicht auf einer Bimmelbahnstrecke gefahren ist. Hier ist ein Bauwerk verblieben, das die vergangene Erschließung dieses abgelegenen Fleckchens Erde auf einzigartige Weise dokumentiert.

Eindrucksvoll: die Staatshauser Brücke ist ein monumentales Denkmal auf der Eisenbahnstrecke. Die Konstruktion besteht im Innern aus Holz.

Über Goldap zum Mamry-See

Irgendwo hinter der Brücke verläuft sich der zukünftige Radwanderweg jedoch im Wald. Immer häufiger muss ich die, jetzt auch nicht mehr eindeutig erkennbare, Trasse verlassen, bis ich spätestens an der Wegkreuzung mit der Straße von Zytkiejmy nach Goldap den glatten Asphalt vorziehe. 

Der Weg weiter nach Goldap ist im besten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Es fehlen einem nicht nur die Worte – selbst ein Starfotograf würde sich wahrscheinlich schwer tun, das was man hier sieht – Menschen, Tiere und Natur ins Bild zu bannen. Entlang endloser Alleen durch eine sanft hügelige Landschaft fahre ich und genieße kilometerweite Aussichten, Füchse und andere Tiere kreuzen meinen Weg und auf den Feldern und wenigen Höfen herrscht vergangene Betriebsamkeit. Wer keinen Storch auf dem Dach sitzen hat, gilt wohl als schlechter Gastgeber – meist sitzen auch dazwischen auf den Strommasten noch Vögel mit ihren Jungen!

Stelldichein in Goldap: Seen und Landschaft locken bereits 2003 Radtouristen.

Goldap selber, das regionale Zentrum, hat sich von den zehrenden Jahrzehnten erholt und erscheint in neuem Glanz und herrlich ansprechend. Mittags gibt es unerwartet ein Stelldichein mehrerer Radtouristen. Hier hole ich zwei Süddeutsche ein, die mich kurz zuvor überholt haben und wir treffen bei der Suche nach Mittagskost auf ein Pärchen, das per Velo in die andere Richtung unterwegs ist. 

Nach einem kurzen Stopp fahre ich weiter in Richtung Westen. Am Ortsausgang führt eine Seilbahn auf die höchste Erhebung in der Umgebung. Mit 272 Metern lädt der Goldaper Berg im Winter sogar zum Skifahren ein. 

Aber auch sonst sind Höhenunterschiede von hundert Metern tatsächlich  keine Seltenheit, so dass sich die Weiterfahrt bei unvermindert starkem Westwind und strahlendem Sonnenschein als schweiß- und muskeltreibend erweist. Quartier finde ich in dieser Nacht in einer neu gebauten Tankstelle mit Gästezimmern in Banie Mazurskie.

Am nächsten Morgen ist die Landschaft schon nach kurzer Weiterfahrt südlich von Wegorzewo von den zahlreichen Seen geprägt. Bis zu 5.000 kleinere und größere Gewässer soll es im östlichen Polen geben – gezählt hat sie indes keiner. Ferienhäuser an kleinen Seen wechseln sich mit unverwechselbaren Ortschaften und bewaldeten Gebieten ab, bevor man auf einem Brückenbauwerk einen kleinen Eindruck vom 104 Quadratkilometer großen Mamry-See bekommt. 20 Kilometer lang und bis zu 12 Kilometer breit ist dieser zweitgrößte See Polens. Im Süden schließt sich der Kisajno-See an, an dessen Ufer Gizycko (Lötzen) liegt. Die Seen, insbesondere der Mamry-See, der genaugenommen selbst aus einer Reihe verbundener Binnengewässer besteht, laden zu umfangreichen Wassersportaktivitäten ein. Die umgebende Landschaft, die Ufernahe Natur und das bunte Treiben auf dem Wasser regen nicht nur das Auge, sondern  insbesondere auch Nase und Ohren an. 

Mit allen Sinnen sensibilisiert setze ich meine Reise durch die Zeit fort, um kurz nacheinander Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte zurückzulegen….

Fortsetzung folgt! (weiter mit Teil III? dann geht´s hier lang…)